Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viel hilft nicht immer viel. Ich glaube, das ist in der vorangegangenen Rede sehr deutlich geworden. Man kann viele, viele Detailregelungen auf einem Haufen schaffen, nämlich ein Gesetz mit fast 180 Änderungen, und trotzdem den Weg verlieren und die eigentlichen Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, nicht angehen. Genau das ist mit diesem Versorgungsstärkungsgesetz passiert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE])
Das will ich Ihnen ganz deutlich machen. Was ist die zentrale Herausforderung, die wir in unserem Gesundheitswesen haben? Wir haben einen demografischen Wandel zu bewältigen. Wir haben heute die Situation, dass 20 Prozent aller Versicherten 80 Prozent aller Leistungen abfragen, und das ist die Gruppe der Älteren und der mehrfach Erkrankten. Genau diese Gruppe wird sich in den nächsten 15 Jahren ungefähr verdoppeln.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das wissen wir doch!)
Das ist die große Herausforderung, die wir zu bewältigen haben, und ich finde kaum eine Regelung, die dem hier gerecht wird. Das ist das eine.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Alle!)
Zweitens. Genau diese Gruppe braucht nicht ein Mehr an einzeln agierenden Hausärzten oder Fachärzten, sondern sie braucht etwas anderes: Sie braucht gut abgestimmte Behandlungswege, sie braucht örtliche Strukturen, die leicht erreichbar sind, sie braucht Gesundheitsberufe, Ärzte, Krankenhäuser, die gut miteinander kooperieren und den Behandlungsweg für diese Patienten abstimmen und ein Geflecht schaffen, auf das sich die Patienten verlassen können, in dem sie gut aufgehoben sind und gut behandelt werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das fängt beim Hausarzt an!)
Auch das wäre eine Aufgabenstellung, die wir angehen müssten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was tun Sie dagegen, dass wir in Deutschland Weltmeister im Besuch einer Arztpraxis sind, dass uns in dieser Arztpraxis dann aber gerade einmal acht Minuten zur Verfügung gestellt werden? Auch das muss sich ändern. Ich sehe keine einzige Regelung, die in diese Richtung gehen würde. Das ist genau die Grundkritik, die wir an diesem Gesetz haben: Wir geben hier nicht die Antworten, die eigentlich notwendig wären, um unser Gesundheitssystem zukunftsfest zu machen und dafür zu sorgen, dass die Patientinnen und Patienten die Behandlung und die Unterstützung finden, die sie in Zukunft brauchen werden.
Wenn wir uns die Einzelregelungen ansehen, die alle genannt worden sind, dann stellen wir schnell fest: Sie klingen gut. Aber was steht tatsächlich dahinter? Es gab ein Landärztegesetz. Was ist tatsächlich in Bewegung gesetzt worden, um mehr Ärzte in den ländlichen Raum und in die unterversorgten Gebiete zu bekommen? Mit Ihrer Bedarfsplanung, wie Sie sie jetzt angelegt haben, werden Sie das nicht erreichen. Einen Auftrag an den GBA zu vergeben, der schon vor zwei Jahren nicht in der Lage war, eine vernünftige Planung hinzubekommen, ist nicht die Lösung des Problems. Da müssen wir weitergehen, und das wissen Sie eigentlich auch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der Sachverständigenrat hat Ihnen deutlich ins Stammbuch geschrieben, was zu tun wäre. Wir müssten die Grundlagen dafür legen, dass wir eine sektorübergreifende Planung schaffen könnten, sodass wir die ambulante und die stationäre Versorgung und den Pflegebereich gemeinsam bedenken und vor Ort Lösungen schaffen könnten, um die Versorgung zu verbessern. In einen solchen Weg müssten wir investieren. Da reicht es nicht, ein kleines Töpfchen mit einem Volumen von 300 Millionen Euro bereitzustellen, mit dem Sie dann neue Versorgungsmodelle anschieben wollen. Da brauchen wir mehr. RotGrün hat schon vor zehn Jahren einen viel größeren Topf bereitgestellt, um neue Versorgungsformen voranzubringen. Genau das hätte es nun auch gebraucht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie reden davon, die Belange von Patienten besser zu berücksichtigen. Eine der zentralen Gruppen, die schlecht versorgt sind in unserem ansonsten guten Gesundheitswesen, sind die Menschen mit Behinderung. Was haben Sie hier getan? Von 180 Regelungen beziehen sich gerade einmal fünf auf diese Personengruppe. Etliches von dem, was wir in unserem Antrag aufzeigen, haben Sie nicht berücksichtigt.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wider besseres Wissen?)
Ich hoffe, dass wir bei den nächsten Gesetzen weiterkommen und dass Sie dann einige unserer Anregungen aufnehmen. Aber nun klafft auch hier eine große Lücke. Sie gehen viel zu kleine Schritte. Wir müssten mehr tun, um zum Beispiel Barrierefreiheit tatsächlich zu realisieren.
Vizepräsidentin Claudia Roth:
Auch die Redezeit!
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zum Schluss will ich durchaus ein versöhnliches Wort sagen. Der Druck, den wir mit unseren vielen Kleinen Anfragen im Bereich der Psychotherapie ausgeübt haben, hat immerhin dazu geführt, dass Sie den Mut gefunden haben, tatsächlich in neue Versorgung zu investieren
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Nur durch Sie?)
und die Richtlinien so zu erweitern, dass wir zu einer Akutsprechstunde und zu ganz neuen Formen der wohnortnahen Versorgung kommen. Wir haben nun die Chance, die elend langen Wartezeiten zu reduzieren. Ich gestehe Ihnen zu, dass das eine Verbesserung ist. Aber viele andere Sachen gehen uns in der Tat nicht weit genug.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)