Drei Jahre nach Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes haben wir Bilanz gezogen. Was hat sich für Patientinnen und Patienten verändert und wo besteht Handlungsbedarf? Darüber hinaus ging es um die Frage, wie Patient*innen befähigt und gestärkt werden können. Das Fachgespräch am 22. Februar 2016 zum Jahrestag des Patientenrechtegesetzes war für uns zugleich der Start einer Veranstaltungsreihe mit dem Thema “Patient*innen in den Mittelpunkt“. Rund 90 Interessierte diskutierten mit den Referent*innen sowie den Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe und Elisabeth Scharfenberg.
Keine Verbesserungen für Opfer von Behandlungsfehlern
Der erste Teil des Fachgesprächs, moderiert von Dr. Harald Terpe, befasste sich mit den Rechten von Patient*innen, die Opfer von Behandlungsfehlern wurden. Jörg Heynemann ist Fachanwalt für Medizinrecht, der Opfer von Behandlungsfehlern vor Gericht vertritt. Seine knappe Antwort auf die Frage, was sich durch das Patientenrechtegesetz geändert habe: „Nichts!“ Bei Verdacht auf Behandlungsfehler liegt die komplette Beweislast weiterhin bei den geschädigten Patient*innen. Dabei ist der Ursachenzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden für Patient*innen sehr schwer beweisbar, stellte Jörg Heynemann fest. Er fordert deswegen eine sogenannte Beweismaßreduktion. Denn so müssten Patient*innen den Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden nur noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beweisen. Aus grüner Sicht noch besser, aber politisch wohl schwieriger durchzusetzen: Patient*innen müssen den Ursachenzusammenhang grundsätzlich nicht nachweisen, wenn erwiesenermaßen ein Schaden und ein Behandlungsfehler vorliegen, sondern die Behandler*innen müssen den Gegenbeweis führen.
[Präsentation von Herrn Heynemann lesen]
Die grüne Bundestagsfraktion fordert seit Jahren die Einführung eines Härtefallfonds. Dieser soll aktiv werden, wenn Patient*innen einen schwerwiegenden Schaden erlitten haben, aber nicht eindeutig festgestellt werden kann, ob ein Behandlungsfehler dafür ursächlich ist. In Österreich gibt es solche Fonds bereits seit 2001 in allen Bundesländern, wie die Wiener Pflege-, Patientinnen- und Patientenanwältin Dr. Sigrid Pilz berichtete. Bis zu 100.000 Euro können Geschädigte vom Wiener Patientenentschädigungsfonds erhalten. Im letzten Jahr hat der Fonds Gesamtentschädigungen von knapp 2,3 Millionen Euro ausgeschüttet. Dr. Sigrid Pilz kritisierte allerdings, dass die Patient*innen den Fonds über eine Abgabe von 0,73 Euro pro Tag stationärer Aufnahme selbst finanzieren müssten. Deshalb fordern wir Grünen die Finanzierung als Systemumlage, sodass die gesetzlichen und privaten Kassen sowie die Leistungserbringer*innen beteiligt werden.
[Präsentation von Frau Dr. Pilz lesen]
Von Betroffenen zu Beteiligten – Wie können Patientinnen unterstützt werden?
Ein patientenorientiertes Gesundheitswesen muss die Selbstbestimmung der Patient*innen respektieren und ermöglichen, dass Patient*innen nicht nur betroffen, sondern aktiv an der Entscheidungsfindung über ihre Gesundheit beteiligt sind. Im zweiten Teil des Fachgesprächs, moderiert von Elisabeth Scharfenberg, diskutierten die Referent*innen und das Publikum deswegen, was nötig ist, damit sich Patient*innen gemeinsam mit Ärzt*innen und Therapeut*innen für ihre Genesung einbringen können.
Patient*innen können nur auf Augenhöhe agieren, wenn sie ihre Rechte kennen und gesundheitsrelevante Informationen finden, verstehen, beurteilen und umsetzen können. Prof. Dr. Doris Schaeffer von der Universität Bielefeld untersucht deswegen in ihrer Forschung, wie es um die Health Literacy, also die Gesundheitskompetenz in Deutschland bestellt ist. Ihre Ergebnisse zeigen, dass dringender Handlungsbedarf besteht: Rund 54 Prozent der Bevölkerung verfügen über eine unzureichende Gesundheitskompetenz. Besonders niedrig ist sie bei älteren Menschen, Menschen mit geringem Bildungsniveau, Menschen mit Migrationshintergrund sowie Menschen mit chronischer Krankheit. „Wir brauchen einen Nationalen Aktionsplan zur Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland“, so Schaeffer.
[Präsentation von Frau Prof. Dr. Schaeffer lesen]
Ein vielversprechender Weg zur Begleitung und Stärkung von Patient*innen sind Peer-to-Peer-Ansätze. Gudrun Tönnes leitet die Agentur LebensART und bildet Psychiatrieerfahrene zu Genesungsbegleiter*innen aus. Die ausgebildeten Genesungsbegleiter*innen können als Übersetzer*innen zwischen Betroffenen und Behandler*innen fungieren, ihre Perspektive als Betroffene einbringen und so ein Partnerschaftsprinzip in der Behandlung verankern. Es fehlt jedoch an Anerkennung und angemessener Bezahlung für die EX-IN-Berater*innen, die derzeit als Hilfskräfte wahrgenommen und entlohnt werden.
[Präsentation von Frau Tönnes lesen]
Seit Jahrzehnten leisten Selbsthilfeinitiativen einen wichtigen Beitrag für das Empowerment von Patient*innen. Dr. Siiri Doka, die das Referat Gesundheitspolitik und Selbsthilfeförderung der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe leitet, erklärte, dass die Selbsthilfe dazu beiträgt, dass sich Patient*innen kompetenter im bürokratischen und entfremdeten Gesundheitssystem bewegen könnten. Außerdem erzielt die Selbsthilfe über ihre politische Arbeit Verbesserungen für Betroffene, unter anderem über die Beteiligung im Gemeinsamen Bundesausschuss.
[Präsentation von Frau Dr. Doka lesen]
Grünes Fazit: Patient*innen müssen in den Mittelpunkt rücken
Für uns Grüne ist Patientenbeteiligung kein abstrakter Begriff, sondern ein Grundsatz der durchgängig Einzug im Gesundheitswesen finden muss. Wie erwartet hat das Patientenrechtegesetz keine nennenswerten Verbesserungen für Patient*innen gebracht. Ein Härtefallfonds bleibt für uns weiter ein dringender Punkt auf der Tagesordnung. Zudem brauchen wir mehr Ansätze, um Patient*innen zu befähigen und zu stärken. Auch auf politischer Ebene müssen Patient*innen an gesundheitspolitischen Entscheidungsprozesse weitaus stärker beteiligt werden. „Wir verstehen das als Stärkung der sozialen Bürgerrechte, die dringend nötig ist für ein demokratisches Gesundheitswesen“, so Maria Klein-Schmeink.