Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Morgen zweieinhalb Stunden eine Debatte über die Sterbehilfe geführt und auch darüber, wie wir und ob wir gesetzliche Maßnahmen ergreifen wollen. Ich glaube, es war heute Morgen eine durchaus sehr gute Debatte, eine sehr differenzierte Debatte, die auch deutlich gemacht hat: Es gibt Gemeinsamkeiten über alle Fraktionen hinweg, und es gibt ethische Grundhaltungen, die nicht einfach nach Lagern verteilt sind, sondern die sich tatsächlich nach ethischen Vorstellungen sortieren.
(Beifall der Abg. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Ich glaube, das ist nicht nur etwas, das von außen als Sternstunde des Parlaments wahrgenommen wird; vielmehr zeigt das auch, dass es Themen gibt, die wir grundsätzlicher angehen müssen und bei denen wir vor allen Dingen unsere gemeinsame Verantwortung in den Blick nehmen und nicht die Unterschiede. Ich hoffe, dass wir mit dem Thema der Suizidprävention in ähnlicher Weise umgehen können, dass wir also sehr genau schauen: Was sind die Vorschläge, und wie können wir sie in unserer parlamentarischen Arbeit aufnehmen? Das vorweg zur heutigen Debatte.
Schauen wir uns die Zahlen an. Wir haben im Jahr 10 000 Suizide, die statistisch erfasst werden; wir haben weitere 100 000 versuchte Suizide. Das sind enorme Größenordnungen. 10 000 Tote durch Suizid – das sind mehr als doppelt so viele wie beispielsweise durch Verkehrsunfälle. Wir müssen uns klarmachen, dass sich täglich zwei Jugendliche das Leben nehmen und 20 es täglich versuchen, dass von den 10 000 Menschen ungefähr ein Drittel über 65 Jahre alt ist. Sie geben als Grund an – das ist der Bezug zu heute Morgen -: Angst vor Einsamkeit, Angst vor chronischen schwerwiegenden Erkrankungen, Angst vor Hilfsbedürftigkeit und Angst vor Pflegebedürftigkeit. Ich meine, all das muss Appell dafür sein, dass wir alles tun, was wir können, um präventiv die Hilfeleistung, die Unterstützung zu geben, die uns als Gesellschaft möglich ist. Dazu wollen wir mit diesem Antrag beitragen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir beanspruchen an dieser Stelle nicht, ein vollständiges Werk vorzulegen; vielmehr haben wir uns die Mühe gemacht, aus den verschiedensten Bereichen Anregungen aufzunehmen, insbesondere auch des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, das zahlreiche Anregungen gegeben hat und dies auch schon seit 2002 tut. Aber man muss auch sagen: Obwohl bundesweit 90 Institutionen, auch die Bundesregierung, daran teilhaben, diskutieren wir die Ergebnisse hier im Bundestag so gut wie nie. Ich meine, das sollte sich auch im Kontext der verschiedenen ethischen Debatten, die wir gerade führen, ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wenn es darum geht, was wir tun, dann müssen wir zuallererst in den Blick nehmen, dass circa 65 bis 90 Prozent – wir wissen es nicht genau – aller Versuche im Kontext einer psychischen Erkrankung oder zumindest einer psychischen Krisenlage zu verorten sind. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass man durch geeignete frühzeitige Hilfestellung erreichen könnte, dass zumindest ein Teil dieser Suizide vermieden wird, vor allen Dingen dort, wo eine ausweglose Situation vorliegt, eine psychische Gemengelage, eine Zuspitzung, vielleicht auch eine Einengung des denkbar Möglichen für den Betreffenden selber. Dies könnte durch eine frühzeitige Hilfestellung verändert werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Von daher ist es sehr wichtig, dass wir neben dem, was wir im Gesundheitssystem vorzuhalten haben, niedrigschwellige Hilfen – etwa die Angebote der Telefonseelsorge, etlicher ehrenamtlicher Krisenhilfen und anderer, eher psychologischer, manchmal auch anonymer Hilfsdienste – ausbauen. Das darf nicht der Zufälligkeit von durch Spenden organisierter Initiativen überlassen bleiben. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass gerade diese niedrigschwelligen Angebote überall vor Ort zugänglich sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Außerdem müssen wir die Angebote der psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Krisenhilfe so zugänglich machen, dass diese Menschen sie auch wahrnehmen, dass sie sich nicht aus Furcht vor einer Psychiatrisierung, einer Zwangseinweisung und all dem, was in diesem Kontext im Raume steht, anders entscheiden, sondern diese Hilfen selbstverständlich annehmen, und das frühzeitig. Es ist ganz klar: Die langen Wartezeiten, die wir in diesen Bereichen bisher haben, sind alles andere als das richtige Angebot.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Natürlich haben wir mit dem Versorgungsstärkungsgesetz Änderungen vorgenommen. Aber sie werden nicht ausreichen, weil insbesondere die ambulanten Krisenangebote fehlen. Da werden wir nachlegen müssen. Ich wäre sehr froh, wenn wir im Herbst dieses Jahres eine entsprechende Debatte führen würden, um an genau dieser Stelle nachzusteuern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kommen wir zur Unterstützung von Angehörigen. Auch sie sind nicht nur auf psychologische Unterstützung, sondern in großem Umfang auch auf alltagsnahe Hilfen, auf Ansprechpartner, auf Menschen, die in ähnlichen Situationen waren, angewiesen. Es geht also um das gesamte Geflecht, das wir gerade im Bereich der ehrenamtlichen Arbeit häufig vorfinden und das auch für sie sehr leicht und niedrigschwellig zur Verfügung stehen sollte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Als Letztes zum Bereich der Prävention. Auch hier muss gelten, das in Angriff zu nehmen, was wir tun können, um zum Beispiel spontane Suizidentschlüsse schwieriger zu machen. Wir wissen aus der Forschung, dass leicht zugängliche Waffen, leicht zugängliche Medikamente, leicht zugängliche Brücken, auch Eisenbahnbrücken, dazu herausfordern, in einer Kurzschlusshandlung aufgesucht und genutzt zu werden. Gleichzeitig weiß man: Wenn es diese Möglichkeiten eines spontanen Suizids nicht gäbe, würde dieser Suizid wahrscheinlich nicht ausgeführt werden, insbesondere dann nicht, wenn geeignete Anlaufstellen oder Gesprächsmöglichkeiten da wären.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass über die vielen Vorschläge, die wir an dieser Stelle gemacht haben, eine konstruktive Debatte geführt wird, wir im Herbst dieses Jahres eine Anhörung durchführen und dann in die entsprechenden Verfahren eintreten.
Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen (SPD) und Birgit Wöllert (DIE LINKE))