Bericht vom Fachgespräch am 29.11.2010
Begrüßung durch Maria Klein-Schmeink:
Für uns Grüne hat „Patienten in den Mittelpunkt stellen“ eine lange Tradition. Uns geht es bei den Patientenrechten nicht darum, einen Konflikt zwischen Arzt und Patienten zu konstruieren, sondern um folgende Fragen: Was ist nötig, um nicht nur vom mündigen Patienten zu reden?  Wie können wir es erreichen, dass sie tatsächlich gut informiert in die Behandlung gehen können und welche Rahmenbedingungen müssen vorhanden sein, wenn PatientInnen einen Gesundheitsschaden erlitten haben? Für die Veranstaltung konzentrieren wir uns heute auf den Bereich  der individuellen Patientenrechte im Fall von Behandlungsfehlern einerseits und der kollektive Patientenrechte andererseits. Ergänzend dazu wollen wir uns am Beispiel der Migrantinnen und Migranten genauer ansehen, wie der Zugang von bestimmten Patientengruppen im Gesundheitswesen  ist, einen anderer Bereich besonderer Zielgruppen – die Menschen mit Behinderung – haben wir uns für das kommende Jahr vorgenommen.  Auch der Aspekt der Fehlervermeidung, Fehlerkultur und Qualitätssicherung in der Versorgung bleibt heute ausgeklammert, wenngleich diesen Themen zur Verbesserung der Patientensicherheit eine große Bedeutung zukommt.

Einige Daten und Fakten:

Das Robert-Koch-Institut geht nach einer älteren Statistik aus dem Jahr 2001 von rd. 40.000 vermuteten medizinischen Behandlungsfehlern im Jahr aus. Rund 30 Prozent davon werden als medizinische Behandlungsfehler anerkannt. Die häufigsten Fehlervorwürfe beziehen sich auf Behandlungen in den „schneidenden“ Fächern, dies sind rd. 69 Prozent der Fehlervorwürfe. Laut Bericht der Bundesärztekammer befassten sich in 2009 sich die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern mit 11.046 Anträgen zu ärztlichen Behandlungsfehlern, rd. 70 Prozent davon aus Krankenhausbehandlungsfällen und rd. 30 Prozent nach einer Behandlung in einer Arztpraxis.  Rund 24 Prozent der angezeigten ärztlichen Behandlungsfehler wurden von den Kommissionen der Ärztekammern uneingeschränkt bejaht. Die häufigsten Fehlervorwürfe beziehen sich auf die Behandlung von Hüft- und Kniegelenken, Arm- und Beinbrüche sowie Krebserkrankungen.
Insgesamt wissen wir, dass die Rechtsprechung in Deutschland durchaus patientenfreundlich ist, dass aber die Hürden dafür, sein Recht durchzusetzen, wenn es zu einem Behandlungsfehler und einem Schaden für die Patientin und den Patienten gekommen ist,  sehr hoch liegen. Diesen Hürden wollen wir im ersten Teil nachgehen. 

Vortrag Jörg F. Heynemann Ausgangspunkt jeder medizinischen Behandlung ist die Entscheidung zur Einwilligung des Patienten.  Bisher haben wir zwar eine differenzierte Rechtsprechung zu den Aufklärungspflichten von Ärzten. Dennoch herrscht bei Ärzten und Patienten Rechtsunsicherheit. Ein Gesetz sollte deshalb die Informations- und Aufklärungspflichten von Ärzten und den Behandlungsvertrag präzise regeln, damit Arzt und Patient die Standards kennen. Insbesondere muss der Patient vollständig über die Erfolgsaussichten, die Art, den Umfang und die Risiken sowie Alternativen zu der vorgeschlagenen Behandlung informiert werden. Zwingend regelungs- und überarbeitungsbedürftig ist die Haftung für eingetretene Gesundheitsschäden infolge eines Behandlungsfehlers durch Ärzte sowie die Beweislast zur Klärung des Zusammenhangs zwischen Schaden und Fehler. Bisher muss der geschädigte Patient den Gesundheitsschaden, den Behandlungsfehler und den ursächlichen und eindeutigen Zusammenhang zwischen Schaden und Pflichtverletzung beweisen. Eine Ausnahme in der Rechtsprechung ist bislang der grobe Behandlungsfehler: in diesem Fall ist der Arzt beweispflichtig und muss belegen, warum andere Gründe für den maßgeblichen Gesundheitsschaden verantwortlich sind. Heynemann spricht sich für die gesetzliche Normierung einer abgeschwächten Beweislast zu Lasten des Arztes aus, wenn nachweislich ein Behandlungsfehler vorliegt. Denkbar ist auch der Amtsermittlungsgrundsatz nach Prof. Hart. Dabei muss das Gericht prüfen, welcher Standard für die Behandlung vorausgesetzt werden musste, ob ein gesundheitlicher Schaden vorliegt und ob der entstandene Schaden im Zusammenhang mit dem Behandlungsfehler steht. Damit kommt den Gutachtern eine sehr bedeutende Rolle zu.  Die dritte Möglichkeit, die Proportionalhaftung, hat Vor- und Nachteile. Von Vorteil ist dass die willkürliche Unterscheidung zwischen einfachem und grobem Behandlungsfehler entfällt. Die Haftungsquote, mit der Sachverständige die Wahrscheinlichkeit angeben, ob der Behandlungsfehler zu dem Schaden geführt hat, ist aber wissenschaftlich nicht nachprüfbar.

Vortrag Dr. Siiri Ann Doka, BAG-Selbsthilfe Als außergerichtliche Verfahren zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Arzt und Patient stehen die Schlichtungsstellen der Ärztekammern zur Verfügung. Ihre Vorteile liegen in der einfachen Beantragung und der Niedrigschwelligkeit des Angebots. Ein Verfahren kann durch einen Arzt oder Patienten und z.T. auch ein Versicherung beantragt werden. Ihre Arbeitsweise ist abhängig von der Satzung der regionalen Schlichtungsstelle. Die Schlichtungsstellen haben eine Schiedsfunktion und werden durch Gutachterkommissionen der Ärztekammer unterstützt. Oft findet eine Klärung nach Aktenlage ohne Anhörung des Patienten statt. Eine anwaltliche Unterstützung der Patienten ist in der Regel nicht vorgesehen.  Ein Schiedsstellenverfahren kann zum Gespräch zwischen Arzt und Patient und zu einer kostenlosen außergerichtlichen Entschädigung beitragen, die Verfahren wirken aber auch präjudizierend, oft sind Schlichtungs- und Gutachterstelle nicht sauber voneinander getrennt. Eine Einbeziehung von Patientenvertretern wäre eine Verbesserung. Frau Doka empfiehlt eine Begrenzung der Ärztekammern auf die Funktion der Gutachterkammern.
Die Unterstützung von Patienten durch Gutachten des MDKs ist bislang eine freiwillige und keine Satzungsaufgabe. Die meisten MDK-Gutachten reichen nur für den ersten Schritt der Klärung eines Behandlungsfehlers. Sinnvoll wäre die Unterstützung der Patienten durch Ergänzungsgutachten und die Einhaltung von Fristen sowie die Entwicklung von Standards für Gutachten durch den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen – MDS.

Vortrag Dr. Thomas Steiner
In München wurden bereits vor 25 Jahren Sonderkammern zu zivilrechtlichen Arzthaftungsprozessen eingerichtet, die Anzahl der Verfahren ist in den letzten zehn Jahren um 78 % gestiegen, trotzdem kommt es  nur in einem Bruchteil der durch die Medizin erzeugten Gesundheitsschäden zu gerichtlichen Verfahren. Nur spezialisierte Fachanwälte sind in der Lage Patienten erfolgreich zu unterstützen, wenn sie mit den Versicherungen der Ärzte in Gespräche zur Schadensregulierung eintreten, problematisch sei hingegen die Vertretung durch nichtspezialisierte Anwälte, die Patienten in ein hohes Kostenrisiko ohne Aussicht auf Erfolg führen können.  Nach Auskunft von einschlägigen Versicherungen werden 90 % der angezeigten Gesundheitsschäden reguliert, in den meisten Fällen nicht überwiegend zugunsten der Patienten.  Die Konstruktion des groben Behandlungsfehlers ist in der Praxis weniger eindeutig, als dies durch den Bundesgerichtshof gesehen wird, und führt je nach konkreter Fallkonstellation bei gleichen Schäden zu sehr unterschiedlichen Haftungsansprüchen. Deshalb empfiehlt er eine Proportionalhaftung, weil sich dadurch die Chance von Patienten überhaupt eine Schadensregulierung zu erhalten, erheblich verbessern. Proportionalhaftung meint: Der medizinische Sachverständige ist aufgerufen, die Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden anzugeben. Mit der Proportionalhaftung wird der Schaden aufgeteilt. Für den Fall, dass eine Schätzung nicht möglich ist, wird eine Teilung zur Hälfte vorgenommen.
Dr. Steiner wünscht sich institutionalisierte Patientenanwälte nach dem österreichischen Modell der Patientenanwaltschaften, ergänzend schlägt er das Verfahren der Mediation vor, um das direkte Gespräch zwischen Arzt und Patient, in den Fällen eines Vertrauensverlustes wieder zu ermöglichen und, wenn von Seiten des Patienten der Wunsch besteht, das Arzt-Patientenverhältnis fortzusetzen. (www.patientenanwalt.com)

Vortrag Dr. Stefan Etgeton

Inzwischen zählen wir 300 Patientenvertretungen, davon sind 200 gegenwärtig aktiv tätig. Zwei Drittel davon kommen aus der Selbsthilfe, ein Drittel aus Verbänden, die sich aktiv um Patientenbelange kümmern. Der Kreis der maßgeblichen Organisationen ist inzwischen gut getroffen worden. Die besten Chancen der Einflussnahme bestehen, wenn sich die beiden großen Bänke nicht einig sind. Durch das fehlende Stimmrecht sind die Patientenvertretungen im GBA in keine Loyalität eingebunden, in Verfahrensfragen wollen wir zukünftig ein Stimmrecht. Verfahrensfragen sind eng verkoppelt mit inhaltlichen Entscheidungen. Der Bundesverband Verbraucherzentrale und Sozialverbände fordern aber ein volles Stimmrecht. Es gibt aber auch ernst zu nehmende Gegenstimmen, die das eher schwierig finden. Bei einem vollen Stimmrecht stellt sich viel schneller die Frage der demokratischen Legitimation. Die Patientenvertretungen müssten sich zudem untereinander einigen; die Positionen zu einzelnen Fragen seien nicht immer untereinander gleich, daraus entstehen Konflikte.  Bei der Ausstattung benötigen wir mehr personelle Unterstützung: vor allem für das Verfahren zu der Neuzulassung von Arzneimitteln und im Bereich Qualitätssicherung. Beteiligungsdefizite von Patientenseite bestehen im Erweiterten Bewertungsausschuss und bei den Schlichtungsstellen der Ärztekammern. Unter Beteiligung von Patienten entstehen bessere Lösungen. Deshalb wünschen wir uns eine Einbeziehung von Patienten auch bei der sektorübergreifenden Versorgungsplanung und den Selektivverträgen.

Vortrag Esin Erman
Jede Behandlung und Therapie erfordert die Mitwirkung von Patienten. Patienten mit unzureichenden Sprachkenntnissen werden häufig nicht ausreichend aufgeklärt und informiert. In der Praxis beschreiben viele Patienten das Problem, dass sie z.B. Medikamente einnehmen müssen, ohne zu wissen warum und was dabei zu beachten ist. Ähnliche Klagen gibt es bei operativen und anderen medizinischen Eingriffen.  In Kliniken werden oft Zufallsdolmetscher ohne  Qualifikation eingesetzt. In meinem Wirkungsbereich, der Therapie von psychischen Erkrankungen, kommt es auf die Kommunikation und auf die Verständigung mit den Patienten besonders stark an. Nach dem Bundesgesundheitssurvey liegt die Prävalenz psychischer Störungen bei den Migranten höher als bei der deutschen Bevölkerung. Die Inanspruchnahme von therapeutischen Hilfen durch Migranten ist geringer als bei der deutschen Bevölkerung. Auch bereits aufgenommene Therapien werden nicht fortgesetzt, wenn die Patienten das Gefühl haben, mein Therapeut versteht mich nicht. Die mangelnde Verständigung führt hier aber zu erheblichen Zugangsbarrieren. In anderen Feldern der Medizin werden die Zugangsbarrieren kompensiert durch einen stetig anwachsenden „Medizintourismus“; insbesondere ältere Migranten meiden inzwischen nach Möglichkeit das deutsche Gesundheitssystem und lassen sich im Herkunftsland behandeln. Die sprachliche Vermittlung ist für die Patientensicherheit wichtig und sollte im GKV-Katalog aufgenommen werden.
 Im Bereich der Psychotherapie werden dringend muttersprachlich, approbierte Psychotherapeuten benötigt. Bei der Kassensitzvergabe wäre deshalb die Anerkennung der muttersprachlichen Kompetenz ein wichtiges Kriterium, übergangsweise würden Sonderbedarfszulassungen Erleichterung verschaffen.  In Regionen mit einem hohen Migrantenanteil brauchen wir eine interkulturelle Öffnung der Einrichtungen des Gesundheitswesens; multikulturelle Arbeitsteams. können dazu beitragen, auch Menschen mit Verständigungsschwierigkeiten besser erreichen zu können.