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Video zur gesamten Debatte

Protokoll der Rede (69. Sitzung des Deutschen Bundestages der 17. Wahlperiode)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun die Kollegin Maria Klein-Schmeink von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Liebe Kollegen hier im Plenum! Besonders mit Blick auf die Argumente meiner Vorredner muss ich Herrn Weinberg für seinen Beitrag großen Respekt zollen;
denn ich finde, er hat die Problemlage rund um die Vorkasse und die Kostenerstattung sehr differenziert dargelegt.
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
Das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen. Großer Respekt!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Er hat zwei wichtige Punkte herausgehoben, nämlich zum einen, dass es sich bei der Abkehr vom Sachleistungsprinzip um eine Qualitätsfrage handelt. Es stellt sich folgende Frage: Wie stellen wir sicher, dass sich alle Patienten, alle Versicherten darauf verlassen können, dass sie wirklich eine qualitätsgesicherte, gute Versorgung bekommen, dass sie sich vertrauensvoll an den Arzt wenden und sicher sein können, dass sie die gemessen am hippokratischen Eid richtige Heilungs- und Therapieempfehlung bekommen und dabei finanzielle Gründe keine Rolle spielen? Ich finde, das ist ein ganz
wichtiges Prinzip, das wir in unserer gesetzlichen Krankenversicherung
zum Schutz der Patienten eingerichtet haben, worauf wir zu Recht stolz sind. 70 Prozent der Bevölkerung sagen zu Recht: Ich will auf jeden Fall das
Sachleistungsprinzip, weil es sicherstellt, dass ich auch und gerade in einer Phase existenzieller Not, in einer sehr empfindlichen und verletzlichen Phase in meinem Leben vertrauensvoll begleitet werde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Aber das wollen Sie mit der Ausweitung der Kostenerstattung
infrage stellen. Die FDP – Herr Lanfermann, dazu haben Sie heute
keinen einzigen Ton gesagt – will die vollständige Abkehr
vom Sachleistungsprinzip.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!)
Das ist Ihre Programmlage beim Umbau des gesetzlichen
Gesundheitssystems.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur wer es sich leisten kann, geht zum Arzt!)
Das haben Sie aber in keinster Weise angeführt.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben nicht zugehört! Ich habe von der Freiwilligkeit gesprochen!)
– Ja, von der Freiwilligkeit. Aber Sie sagen doch von der FDP, dass Sie die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt in Richtung Vorkasse, in Richtung Kostenerstattungsprinzip umbauen wollen. Das ist Ihre Programmlage.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: So ein Quatsch! – Heinz Lanfermann [FDP]: Erst sagen Sie, ich hätte nichts gesagt, und dann unterstellen Sie mir etwas!)
Herr Rösler hat keine Gelegenheit ausgelassen, zu betonen, dass das, was er jetzt vorlegen wird, nur ein erster Baustein auf diesem Weg ist. Da müssen wir uns nichts vormachen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir sind doch auch noch da!)
Insofern geht es keinesfalls um eine Phantomdebatte, sondern es geht darum, dass Sie den vollständigen Umbau der gesetzlichen Krankenversicherung hin zu einer PKV vorbereiten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir passen da schon auf!)
Zum Zweiten. Sie haben in dieser ganzen Debatte kein einziges Argument liefern können, warum es für den Patienten eigentlich gut ist, das Modell der Kostenerstattung zu wählen. Kein einziges Argument habe ich von Ihrer Seite gehört.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)
Auch wenn die Grünen damals dem Gesundheitskonsens beipflichten mussten, weil sie nicht anders konnten,
(Heinz Lanfermann [FDP]: Oh!)
und damit unter anderem die Kostenerstattungsregelung in der Krankenversicherung als Möglichkeit eingeführt wurde, heißt das noch lange nicht, dass sie ein richtiges Instrument ist.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie stimmen also falschen Dingen zu!)
Wir wissen auch – das hat der Bericht ganz deutlich gezeigt –: 0,2 Prozent aller Versicherten wählen diesen Tarif, wohl wissend, dass es keine wirklich günstige Option für sie ist.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist denn das Problem?)
Herr Spahn, das Problem ist, dass Sie jetzt die Kostenerstattung ausweiten wollen; das wissen Sie. Nicht umsonst ist die Ausweitung der  Kostenerstattung in Ihren Reihen hoch umstritten; denn Sie wissen, dass Sie mit der Ausweitung dieses Prinzips eine Dreiklassenversorgung schaffen, bei der nicht mehr sichergestellt ist, dass jeder Versicherte den gleichen Anspruch auf rechtzeitige und bestmögliche Behandlung durchsetzen kann. Vielmehr führen Sie verschiedene Klassen ein. Zugleich schaffen Sie ein Anreizsystem für die Versicherungen, entsprechende Zusatztarife zu schaffen. Das spiegelt sich auch in den Anträgen wider, die Sie uns letztens auf den Tisch gelegt haben. Ich muss sagen: Sie wollten diese Regelung klammheimlich einführen, indem Sie nämlich nicht gerade deutlich ausgeführt haben, dass die Regelung für den Patienten bedeutet, dass er mehr zahlt.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Beim Kollegen Weinberg hat sich das sogar sehr deutlich angehört!)
Der Patient zahlt für die Behandlung im Schnitt ein Drittel mehr als normalerweise die GKV, und auf diesen Kosten bleibt er sitzen. Das muss er wissen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)
Das wollen wir auf keinen Fall. Im Gegenteil: Bei unserer Bürgerversicherung ist das Sachleistungsprinzip eines der zentralen Prinzipien. Dabei muss es bleiben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)
Jetzt komme ich zu einem anderen Aspekt: Patientenschutz. Wir haben einen Patientenbeauftragten; eigentlich müsste er heute hier sitzen. Er müsste sich eigentlich um die Frage kümmern, wie die vertragliche Gestaltung beim ausgeweiteten Instrument der Kostenerstattung aussehen wird.
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Ja, eben! Das tut er auch!)
Ihnen fällt zunächst nichts anderes ein, als die Pflicht zur schriftlichen Beratung und Information über die Bedingungen des Vertrags, der eingegangen wird, abzuschaffen. Sie haben tatsächlich die Stirn, diese Pflicht abzuschaffen, mit dem Argument, sie bringe zusätzliche Bürokratie und mache das Instrument der Kostenerstattung unattraktiv. Das ist doch nicht zu glauben. Das ist ein echter Kniefall vor der Ärzteschaft, die sich darüber
beschwert hat, dass sie bei einer Umsetzung zusätzliche bürokratische Aufgaben erfüllen müsste. Es gibt in keinem anderen Bereich der Wirtschaft Vertragsbeziehungen, bei denen man einen Vertrag unterschreiben muss,
obwohl man die Kautelen nicht genau kennt. Ich halte das, was Sie uns da letztens auf den Tisch gelegt haben, wirklich für eine Zumutung. Ich halte das unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes für eine Frechheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich möchte einen weiteren Punkt betonen: Sie greifen in massiver Weise in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ein.
(Lars Lindemann [FDP]: Jetzt wird es ganz absurd!)
Das ist für mich die zweite große Sünde, die Sie da begehen. Sie machen den Patienten zum Kunden und verführen den Arzt dazu, auf eine Abrechnung über höher vergütete private Tarife hinzuwirken. Der Arzt könnte versuchen, den Patienten im Gespräch davon zu überzeugen, eine therapeutische Zusatzleistung in Anspruch zu nehmen, wohl wissend, dass dann eine private Abrechnung möglich ist.
(Lars Lindemann [FDP]: Noch absurder geht es nicht!)
Das hat langfristig massive Auswirkungen. Zusätzlich wird Ihre Regelung dazu führen, dass die Arztpraxen zu Inkassounternehmen werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Lars Lindemann [FDP]: Zu Inkassounternehmen haben Sie sie mit der Praxisgebühr gemacht! – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben
aber ein schlechtes Gedächtnis!)
– Sie haben die Praxisgebühr nicht abgeschafft. Das ist eine weitere Baustelle, die Sie angehen könnten. – Sie werden die Arztpraxen damit konfrontieren, dass Rechnungen nicht bezahlt werden, dass den Patienten nicht klar war, welche Verbindlichkeiten sie eigentlich eingegangen sind. Da geht es in der Regel um hohe Rechnungen, die Menschen mit kleinem Einkommen sehr schnell überfordern. Das wird tatsächlich dazu führen, dass die Zahl der Inkassovorgänge ansteigt.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist denn der Unterschied zum Status quo? Erzählen Sie uns das doch!)
Man kann das insgesamt nicht gerade als Bürokratieabbau bezeichnen; es ist genau das Gegenteil: Es kommt zu einer höheren bürokratischen Belastung der Praxen und der Versicherungen, die die Rechnungen abgleichen müssen. Insgesamt stellen Sie das solidarische System, das wir bisher haben, massiv infrage. Sie haben nicht einen einzigen guten Grund dafür genannt. Ich kann nur mit Herrn Straubinger sagen: Die Kostenerstattung bringt auf der einen Seite keine zusätzliche Transparenz und keine Kosteneinsparung; aber sie bringt die Patienten in eine Situation, die sie überfordern wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)