Am 23. Februar 2015 lud die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Fachgespräch „Behandlungen gegen den Patientenwillen“ ein. Ziel des von Maria Klein-Schmeink, Sprecherin für Gesundheitspolitik, und Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik, moderierten Gespräches war ein Austausch über die Entwicklung von Zwangsbehandlungen in Deutschland seit Inkrafttreten der neuen Regelung zur betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme im Februar 2013. Gemeinsam mit Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Menschen aus dem professionellen Hilfesystem debattierten wir, ob die betreuungsrechtliche Neuregelung sich in der Praxis bewährt hat und welcher Handlungsbedarf zum Schutz der Selbstbestimmung und Freiheit von PatientInnen noch besteht. In Anbindung an das Fachgespräch im November 2011, das sich mit den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention befasste, wurde auch diesmal der trialogische Austausch in den Vordergrund gestellt. In einer konstruktiven Runde von rund 100 Menschen aus verschiedensten Bereichen wurde angeregt diskutiert.
Dr. Marschner, Rechts- und Fachanwalt für Sozialrecht und Behindertenrecht, führte in die rechtlichen Rahmenbedingungen ein und erläuterte die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung in positiver Weise konkretisiert habe. Er betonte, wie wichtig es sei, dass die entscheidenden Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung eindeutig im Gesetz geregelt würden, damit sie in der Praxis von Richtern umfassend berücksichtigt werden. Die gesetzliche Festlegung der Grenzen für Zwangsbehandlungen im Betreuungsrecht sei aber nur ein Mosaikstein, so Marschner. Es ginge um die Überwindung von Gewalt in der Psychiatrie, Alternativen der Unterbringung – insbesondere im home treatment – und moderne Formen der psychiatrischen Behandlung.
 [Präsentation von Dr. Marschner lesen]
Frau Osterfeld, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Vorstandsmitglied der Aktion Psychisch Kranke e.V. und Mitglied der staatlichen Besuchskommission nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz in NRW, berichtete über die Rolle des neuen § 1906 Abs. 3 BGB in der Rechtspraxis bei psychiatrisch-medikamentöser Behandlung. Sie bemängelte die Ausweichmöglichkeiten über die Unterbringungsgesetze der Länder, so dass Betroffene aufgrund ihrer psychiatrischen Diagnose und aufgrund ihrer angeblichen Gefährlichkeit bzw. des vermuteten Sicherheitsrisikos, ihrer Grund- und Freiheitsrechte beraubt würden. Außerdem würden Ärzte nicht ihrer Pflicht nachkommen, Patienten sowie ihre Betreuer über alle Aspekte der Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären, so dass diese nicht eine wohlinformierte Entscheidung treffen könnten.
Prof. Dr. Steinert, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Weissenau sowie Leiter des Zentralbereichs Forschung und Lehre am ZfP Süd-Württemberg, stellte aktuelle Zahlen zu Zwangsbehandlungen nach Betreuungsrecht und dem Unterbringungsgesetz in Baden-Württemberg vor. Er wies auf die unterschiedliche Interpretation der Dauer für einen erfolgreichen Überzeugungsversuch hin und kritisierte gleichzeitig die variierende Auslegung des „erheblichen Gesundheitsschadens“, dessen Abwendung eine Zwangsmaßnahme erst rechtfertigt. Weitere zu berücksichtigende Aspekte sieht Steinert in der Unterbringung ohne Behandlung, der Frage nach Zwangsbehandlungen im ambulanten und somatischen Bereich sowie in der Problematik der Bestellung von externen Gutachtern in strukturschwachen Regionen. Außerdem plädierte er dafür, Kliniken zu verpflichten, Art und Ausmaß von Zwangsbehandlungen zu dokumentieren sowie eine nationale Stelle zu beauftragen, die Daten zusammenzufügen und auszuwerten.

Evaluation der Reform aus der Praxis
Frau Fricke vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener konstatierte, dass es nur noch eine Rechtsgrundlage für Zwangseinweisungen und –behandlungen geben sollte. Die Streichung des § 1906 BGB habe sie schon vor zwei Jahren gefordert, die öffentlich-rechtliche Regelung sei sinnvoller, da so der Betreuer den Betroffenen nicht einweise. Durch ein unbelastetes Vertrauensverhältnis könne der gesetzliche Betreuer sich für die Interessen des Betroffenen besser einsetzen und diese vertreten. Der § 1906 BGB werfe zu viele Fragen auf, bspw. wie viele Überzeugungsversuche unternommen werden müssten bevor eine Zwangsbehandlung erfolgen dürfe. Auch die Beliebtheit von Eilverfahren zur Umgehung der gesetzlichen Voraussetzungen sei problematisch. Insgesamt gestalte sich die Praxis nicht im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention.
Frau Schliebener vom Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker berichtete, dass Richter das Gesetz unterschiedlich anwenden würden und es keine einheitliche Genehmigungspraxis geben würde, was sowohl Patienten als auch Ärzte verunsichere. Die Anzahl der Zwangsmedikationen nahm in den letzten Jahren zwar ab, physikalische Gewalt stieg jedoch in den Kliniken an. Nicht zu unterschätzen sei auch das Auftreten von Gewalt von Patienten gegenüber Personal und Mitpatienten. Dies legitimiere keine schneller vollstreckten Zwangsmaßnahmen, aber generell müsse über Alternativen zu Zwang nachgedacht werden. Zur Vermeidung von Zwang sollten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kliniken regelmäßig an Deeskalationsschulungen teilnehmen und das Finanzierungssystem auf Anreize für Zwangsbehandlungen überprüft werden.
Herr Förter-Vondey vom Bundesverband der Berufsbetreuer wertete die neue Gesetzgebung als einen ersten positiven Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention: Das neue Gesetz sorge für mehr Beachtung des Wohls und Willens der betreuten Person und biete die Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen genauer zu hinterfragen und ggf. einzudämmen. Problematisch sei jedoch, dass die Rahmenbedingungen im Alltag (Qualität, Standards, Zulassung, Ausbildung) nicht angepasst wurden und teilweise zu weiche Formulierungen im Gesetz getroffen wurden. Er gab Verbesserungsvorschläge für das Zusammenwirken in der Psychiatrie im Sinne des Patienten vor und forderte eine messbare Qualitätssicherung der Betreuer durch die Einführung von Standards für fachliches Handeln zur Vermeidung von Zwang.
[Präsentation von Herrn Förter-Vondey lesen]
Frau Loer, Betreuungsrichterin am Amtsgericht Hannover, beurteilt die neue Rechtsgrundlage als positiv, da die Hürden für eine Zwangsmaßnahme höher gesetzt wurden und bei Einhaltung ein Gewinn für Betroffene seien. Eine unterschiedliche Auslegung der gesetzlichen Voraussetzungen könne sie nicht bestätigen. Die weicheren Formulierungen im Gesetzestext seien sinnvoll, um dem Einzelfall gerecht zu werden. Auch eine Reduzierung auf die öffentlich-rechtlichen Unterbringungsgesetze der Länder lehnt Frau Loer ab, sie argumentiert, dass der Einbezug des Betreuers wichtig sei und dieser schließlich für und nicht gegen den Betreuten entscheiden muss. Insgesamt bewertet sie die Auseinandersetzung mit der Problematik Zwang seit dem Gesetzgebungsverfahren als Erfolg. Die Datenlage und Forschung zur Wirksamkeit von Zwangsbehandlungen müsse jedoch verbessert werden.
In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem über die Bedeutung von Behandlungsvereinbarungen diskutiert. Frau Osterfeld forderte, dass die Behandlungsvereinbarung mehr in die Praxis integriert und stärker von Ärzten angeboten werden müsse, in den Kommissionsbesuchen würde sich zeigen, dass diese nirgendwo Anwendung finde. Frau Fricke sieht in der Behandlungsvereinbarung einen therapeutischen Effekt. Auch Frau Schliebener bekräftigte die positive Wirkung einer Behandlungsvereinbarung, da der Patient sich mit seiner Behandlung auseinandersetze und der geistige Zustand dafür durch einen Arzt attestiert sei. Die Behandlungsvereinbarung koste keine Zeit, sondern spare sogar Zeit ein, denn Diskussionen um Unterbringung oder Behandlung wären dadurch hinfällig. Frau Loer sieht die Behandlungsvereinbarung als ein gutes Instrument zur Vermeidung von Konfliktsituationen an. Diese könne Behandlungswünsche deutlich machen, während eine Patientenverfügung eher Behandlungsausschlüsse formuliere. Bedeutsam sei, so Dr. Marschner, dass die Behandlungsvereinbarung in den Kliniken gelebt werde – dies beginne am Kopf der Klinik, dem Chefarzt.

Grünes Fazit: Weitere Anstrengungen für eine menschenrechtskonforme Psychiatrie sind nötig
Zwei Jahre nach der Reform des Betreuungsrechts scheint es, folgt man Berichten aus der Praxis, in den psychiatrischen Krankenhäusern ein stärkeres Bewusstsein für den mit der Anwendung von Zwang verbundenen Grundrechtseingriff zu geben. Aber wir sind noch weit entfernt von einem Ende des Zwangs in der Psychiatrie. Deshalb sind weitere Anstrengungen nötig, um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen und Betroffene in der Entscheidungsfindung zu unterstützen, anstatt ihre Entscheidung zu ersetzen.
Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung zwei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Rechtsgrundlage keine Auskunft darüber geben kann, wie die Anwendung von Zwang sich seit der Reform entwickelt hat und wie viele Behandlungen gegen den Patientenwillen durchgeführt wurden. Zwangsmaßnahmen sind schwere Eingriffe in die Grundrechte von Menschen, die, solange sie stattfinden, streng kontrolliert werden müssen. Die Bundesregierung ist dringend aufgefordert, den rechtlichen Rahmen für eine lückenlose Dokumentation aller beantragten und genehmigten medizinischen Zwangsbehandlungen zu schaffen, ein regelmäßiges Monitoring zu veröffentlichen und eine Stelle zu benennen, die die Ausübung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen beobachtet und überprüft. Nur so lassen sich gesetzliche Fehlentwicklungen oder Missstände in der Praxis tatsächlich erkennen und korrigieren.
Wichtig war, dass wir Grüne vor zwei Jahren im Gesetzgebungsverfahren durchgesetzt haben, dass vor der Genehmigung in eine Zwangsmaßnahme der Arzt Alternativen prüfen und auch ernsthaft versuchen muss, den Betroffenen von der Behandlung zu überzeugen oder aber diese erst mal zu unterlassen. Das ist oft zeitintensiv, aber es fördert zumeist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient, die gerade bei Menschen in psychischen Krisen maßgeblich für eine erfolgreiche Behandlung ist.
Jenseits der rechtlichen Situation müssen wir auch 40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete feststellen, dass trotz vieler Verbesserungen im psychiatrischen Alltag, längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um Zwangsbehandlungen zu vermeiden. In den Krankenhäusern fehlen oft das Konzept, die Zeit oder schlicht das Personal, um auf die Bedürfnisse der Betroffenen einzugehen, mit der Folge einer zwangsweisen Behandlung.
Die Politik steht zudem in der Pflicht, durch strukturelle Vorgaben und eine am individuellen Behandlungsbedarf orientierte Finanzierung Zwangsbehandlungen so weit wie möglich aus dem Stationsalltag zu verbannen. Auch die Krankenhäuser sind aufgefordert, ihre Behandlungskultur zu überprüfen. Dazu zählen verbindliche Personalstandards, zusätzliche Sitzwachen und Rückzugsräume in einer reizarmen Umgebung, Faktoren, die sich auch im Entgeltsystem niederschlagen müssen. Zudem müssen psychiatrische Krankenhäuser dazu verpflichtet werden, Patientinnen und Patienten mit wiederkehrenden Krisen eine Behandlungsvereinbarung anzubieten. So können Betroffene, wenn sie es möchten, gemeinsam mit ihrem Arzt oder Psychotherapeuten verbindlich festlegen, wie sie im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit behandelt werden möchten.
Hilfreich sind zudem Nachsorgeangebote unter Einbeziehung von Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen psychisch Kranker, die darauf ausgerichtet sind, das Auftreten einer psychiatrischen Krise frühzeitig zu erkennen. Auch müssen dringend neue Formen der akuten Krisenhilfe ausgebaut werden, um Patienten, die eine medikamentös gestützte Behandlung ablehnen, Alternativen bieten zu können. Unser heutiges Behandlungssystem bei akuten psychischen Krisen ist immer noch zu stations- und medikamentenlastig.