Entschließungsantrag der Abgeordneten Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy, Tom Königs, Katja Keul, Agnieszka Malczak, Viola von Cramon..
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zum Antrag der Bun­desregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung am ISAF-Einsatz (BT­Drs. 17/39)

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Bundesregierung erbittet die Zustimmung zu einem 12-monatigen Mandat von dem sie schon heute weiß, dass es in wenigen Wochen überholt sein wird. Die Bundesregierung hat – entgegen eigenen Ankündigungen – dem Bundestag kein verbindliches zivil-militärisches Mandat und Gesamtkonzept vorgelegt, das erkennen lässt, wie der Afghanistan-Einsatz in absehbarer Zeit erfolgreich beendet werden kann. Nach wie vor hat keine Evaluierung und Bilanzierung des bisherigen Afghanistan-Engagements stattgefunden.
Begründet wird der Einsatz von der Bundesregierung in erster Linie damit, deutsche Interessen zu verfolgen. Eine „Übergabe in Verantwortung“ wird nur gelingen, wenn nicht die deutschen Interessen im Vordergrund stehen, sondern die der afghanischen Bevölkerung. Der Einsatz in Afghanistan dient primär dazu, das Land zu stabilisieren, die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern und grundlegende Menschenrechte zu gewährleisten.
Deutschland hat im Rahmen der International Security Assistance Force (ISAF) unter Mandat der Vereinten Nationen, auf Wunsch der afghanischen Regierung und unter Beteiligung zahlreicher Bündnispartner Verantwortung in Afghanistan übernommen. Dieser Verantwortung darf man sich nicht einfach entziehen. Wir dürfen weder die friedensbereiten und demokratischen Afghanen noch die ISAF-Partner oder die vielen zivilen Helferinnen und Helfer im Stich lassen. Die Beteiligung der Bundeswehr an der Stabilisierungsmission ISAF bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein notwendiger Beitrag zur Stabilisierung und Friedenssicherung in Afghanistan. Ohne militärische Absicherung kann der zivile Aufbau nicht funktionieren.
Umgekehrt wird aber die militärische Mission ohne eine Behebung der massiven Defizite beim zivilen Aufbau in letzter Konsequenz zum Scheitern verurteilt sein. Der Konflikt in Afghanistan kann nicht militärisch, sondern nur durch die Stärkung der staatlichen Institutionen sowie der Menschenrechte und durch wirtschaftliche Perspektiven für die afghanische Bevölkerung nachhaltig gelöst werden. Ohne eine stärkere Eigenverantwortung der Afghaninnen und Afghanen für ihr Gemeinwesen, ohne ein umsichtiges militärisches Auftreten, das den Schutz der Menschen in den Mittelpunkt stellt, und nicht zuletzt ohne eine unverzügliche radikale zivile Aufbauoffensive wird der Einsatz aussichts- und damit verantwortungslos. Ein Einsatz ohne Erfolgs- und ohne Abzugsperspektive ist zudem für die Soldatinnen und Soldaten und deren Familien nicht zumutbar. Nötig sind Kriterien und ein konkreter Zeitplan für einen schrittweisen Abzug der internationalen Truppen.
Der Stabilisierungseinsatz in Afghanistan befindet sich in einer kritischen Phase mit offenem Ausgang. Während es im Aufbauprozess, etwa im Bildungsbereich oder beim Ausbau der Infrastruktur, weiterhin Fortschritte und Erfolge zu verzeichnen gibt, hat sich die Sicherheitslage in Teilen Afghanistans, nicht nur im Süden und Osten, sondern auch im Norden, sowie in Pakistan weiter verschlechtert. Schädlich bleiben die Parallelaktivitäten von OEF-Einheiten in Afghanistan, deren Einsätze weiterhin von einer klassischen Kriegslogik dominiert sind. Die von massiver Manipulation gekennzeichnete afghanische Präsidentschaftswahl war zudem für den politischen Prozess in Afghanistan und die Akzeptanz des Einsatzes ein herber Rückschlag.
Fatal waren die vom deutschen Regionalkommando befohlenen Luftangriffe auf zwei Tanklastzüge am 04.09., denen eine bis heute unbekannte Zahl von Zivilistinnen und Zivilisten zum Opfer fiel. Die Unterrichtung von Parlament und Öffentlichkeit durch die Bundesregierung und den damals verantwortlichen Minister war skandalös. Die Bundesregierung hat im Vorfeld der Bundestagswahlen dem Parlament zentrale Informationen vorenthalten. Dies muss lückenlos aufgeklärt werden.
Die Rechtfertigung des Angriffs als militärisch ‚angemessen’ und‚zwangsläufig’ durch den amtierenden Verteidigungsminister bedeutet einen radikalen Kurswechsel. Damit wird eine offensive Kriegslogik begründet, die den Primat des Schutzes der Zivilbevölkerung konterkariert. Das
zurückhaltende militärische Auftreten, das lange Zeit das deutsche Engagement in Afghanistan kennzeichnete und für das nicht zuletzt der Generalinspekteur lange gestritten hat, darf nicht aufgekündigt werden. Die Bundesregierung und der Bundesverteidigungsminister müssen vor einer Mandatsverlängerung klarstellen, dass der Schutz von Zivilisten höchste Priorität hat und eine Bombardierung von Menschenansammlungen weder angemessen noch zwangsläufig ist. Für eine Kriegslogik, die auf die physische Vernichtung möglichst vieler Gegner zielt, darf in der Stabilisierungsmission der ISAF kein Platz sein.
Damit der Einsatz in Afghanistan überhaupt noch erfolgreich sein kann, muss nun unverzüglich ein Strategiewechsel im Sinne einer engagierten zivilen Aufbauoffensive und eines klaren Abzugsplans implementiert werden. Alle Expertinnen und Experten sind sich einig, dass für den Erfolg des Einsatzes vor allem der Aufbau von staatlichen Strukturen und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Afghaninnen und Afghanen entscheidend sind. Bislang leidet der Aufbau Afghanistans darunter, dass er sich zu wenig an den Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung orientiert und die enorme Stadt­Land-Disparität unterschätzt. Armut und Arbeitslosigkeit werden laut Oxfam und afghanischen Partnerorganisationen im Land selbst laut aktueller Umfrage von Nov. 2009 als Hauptgründe für den andauernden Konflikt genannt. Ländliche Entwicklung und Bildung (Capacity Building) sind daher zentrale Ausgangspunkte für eine gender- und kulturgerechte Ausgestaltung der Aufbauinitiativen.
Eine Aufstockung des deutschen Bundeswehrkontingentes im Rahmen des bisherigen „Weiter-so“ ist nicht verantwortbar. Es wäre ein falsches Signal den Fokus des deutschen Engagements noch stärker auf das Militärische zu legen. Auch die afghanischen Partnerinnen und Partner fordern keine zusätzlichen Bundeswehrsoldaten, sondern mehr Polizeiausbilder und mehr zivile Hilfe.
Bei den internationalen Bündnispartnern gibt es in den Fragen eines Strategiewechsels und der Erarbeitung einer konkreten Abzugsperspektive eine neue Offenheit. Die US-Administration hat mit der klaren Weisung zur Vermeidung ziviler Opfer, der Verstärkung ihrer Hilfen und der stärkeren Einbeziehung Pakistans erste wichtige Korrekturen eingeleitet, die weiter in die Tat umgesetzt werden müssen.
Die internationale Afghanistan-Konferenz und die Parlamentswahlen 2010 müssen nun genutzt werden, um eine zivile Aufbauoffensive mit einem realistischen Ziel- und Maßnahmenkatalog und einem klaren Abzugsplan zu vereinbaren und damit bis 2013 die wesentlichen Voraussetzungen für eine selbsttragende Entwicklung in Afghanistan zu schaffen. Hierzu aber wäre es notwendig, dass die Bundesregierung ihre Ziele und ihre Zusagen gegenüber dem Bundestag offen legt.
II.    Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

  1. dem Bundestag ein neues Mandat vorzulegen, das auf sechs Monate befristet ist und eine klare Ausrichtung auf den zivilen Aufbau hat und zeitnah nach der Afghanistan-Konferenz dem Bundestag ein neues Mandat vorzulegen, das die genannte zivile Aufbauoffensive und militärische Abzugsperspektive beinhaltet und glaubhaft gewährleistet, dass der Einsatz der Bundeswehr erfolgreich fortgeführt und beendet werden kann.
  2. unverzüglich klar zu stellen, dass der Schutz von Zivilisten höchste Priorität hat und eine Bombardierung von Menschenansammlungen weder angemessen noch zwangsläufig ist.
  3. dem Bundestag bis zur Afghanistan-Konferenz eine unabhängige Evaluierung des bisherigen deutschen Engagements in Afghanistan sowie eine Übersicht über die konkreten deutschen Beiträge zur Afghanistan-Konferenz und einer aussichtsreichen Strategie der „Übergabe in Verantwortung“ vorzulegen.
  4. gemeinsam mit den afghanischen und internationalen Partnerinnen und Partnern eine Abzugsperspektive zu entwickeln und auf der Afghanistan-Konferenz zu vereinbaren, die alle Beteiligten konkret und überprüfbar in die Pflicht nimmt und es erlaubt, in den nächsten vier Jahren den Abzug der internationalen Truppen einzuleiten.
  5. sich für eine Beendigung der Operation Enduring Freedom in Afghanistan einzusetzen und klarzustellen, im Rahmen welcher Leitlinien die Bundeswehr operiert, damit in der Praxis die Einhaltung und der Schutz der Menschenrechte und der Schutz der Zivilbevölkerung als oberste Priorität gewährleistet sind.
  6. keine Aufstockung des Bundeswehrkontigentes vorzubereiten oder vorzunehmen und so das Übergewicht des Militärischen gegenüber dem zivilen Engagement zu verstärken, sondern stattdessen, wie es auch von den afghanischen Partnern gewünscht ist, Deutschlands finanzielle und materielle Beiträge für den zivilen Wiederaufbau im Sinne einer engagierten zivilen Aufbauoffensive auch qualitativ stark zu erhöhen.
  7. für Schlüsselbereiche wie Polizei, Justiz, Bildung, Infrastruktur, Landwirtschaft und wirtschaftliche Entwicklung eine engagierte zivile Aufbauoffensive mit realistischen und verbindlichen Zwischenzielen zu vereinbaren, die bei den friedensbereiten Kräften in allen Regionen ankommt.
  8. unverzüglich mindestens 500 deutsche Polizeikräfte für den Aufbau afghanischer Polizei zur Verfügung zu stellen, sich gemeinsam mit internationalen und afghanischen Partnerinnen und Partner für konkrete Schritte und sichtbare Erfolge bei der Beseitigung von Korruption, Drogen- und Vetternwirtschaft einzusetzen und 2010 freie und faire Parlamentswahlen durchzusetzen.
  9. sich dafür einzusetzen, dass in Afghanistan die Menschenrechte gewahrt werden, Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen sofort Zugang zu Gefangenen haben und Geheimgefängnisse wie in Baghram schnellstens geschlossen werden.

Berlin, den 27.11.2009
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion