In Deutschland leidet jedes Jahr rund jede dritte erwachsene Person an mindestens einer psychischen Störung. Psychische Erkrankungen stehen an zweiter Stelle der häufigsten Ursachen für betriebliche Fehlzeiten und sind Hauptursache für den Bezug von Erwerbsminderungsrenten. Dennoch werden psychische Erkrankungen häufig zu spät erkannt und unzureichend behandelt. Der deutliche Anstieg an Behandlungen in psychiatrischen Krankenhäusern, hohe Wiederaufnahmequoten und lange Wartezeiten von durchschnittlich 20 Wochen auf eine ambulante Therapie machen deutlich: Der Handlungsdruck ist enorm. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat einen Entwurf für ein Terminservice- und Versorgungsgesetz präsentiert. Es sieht eine gestufte und gesteuerte Versorgung für die psychotherapeutische Behandlung vor und soll schwer erkrankten Menschen schneller zu einem Termin verhelfen. Das Konzept geht aber am Ziel völlig vorbei und liegt ganz und gar nicht im Interesse einer niedrigschwelligen Versorgung. Was wir brauchen ist ein bedarfsgerechtes und aufeinander abgestimmtes Versorgungskonzept für den gesamten Bereich der psychischen Gesundheit. Dazu gehört erstens schnellere Hilfe durch ausreichend ambulante Therapieplätze und Angebote der ambulanten Krisenintervention. Machbar wäre das, denn die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind ein hausgemachtes Problem. Ausreichend ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten gäbe es, sie werden jedoch nicht für die Kassenabrechnung zugelassen. Die Weiterentwicklung der Bedarfsplanung verzögert sich von Jahr zu Jahr. Wichtig ist, dass die Bedarfsplanung schnellstmöglich reformiert wird und sich am tatsächlichen Bedarf orientiert. Zweitens brauchen wir eine gemeindenahe und personenzentrierte Versorgung und eine verbesserte sektorübergreifende Zusammenarbeit. Schwer oder chronisch psychisch erkrankte Menschen benötigen oft Versorgungsansätze, die alle Lebensbereiche abdecken: Wohnen, soziale Teilhabe, Beschäftigung sowie psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung. Es kommt daher besonders auf die enge Zusammenarbeit und Koordination zwischen den Sektoren und Berufsgruppen an. Hilfsangebote zwischen ambulanter und stationärer Behandlung müssen flexibler werden, gleichzeitig benötigen die Erkrankten feste Ansprechpartner. Modellprojekte dazu gibt es. Sie müssen evaluiert werden und bei Erfolg flächendeckend umgesetzt werden. Drittens sind ausreichend Personal und ein Personalmix in der stationären Versorgung für die erfolgreiche und zwangsarme Behandlung unabdingbar. Eine bedarfsorientierte Personalausstattung wirkt sich auch auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten aus. Für die derzeit im Gemeinsamen Bundesausschuss entwickelten Personalmindeststandards, die ab 2020 gelten sollen, muss deshalb der Maßstab gelten, den therapeutischen und pflegerischen Aufwand und den notwendigen Personalmix ausreichend zu berücksichtigen. Viertens müssen Beratungs- und Unterstützungsangebote die Persönlichkeitsrechte und Würde der Patientinnen und Patienten wahren und immer auf Augenhöhe und unter Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Angehörigen erfolgen. Der Ausbau des Trialogs ist dafür von großer Bedeutung. Ein vielversprechender Weg zur Begleitung und Stärkung von Patientinnen und Patienten sind auch Peer-to-Peer-Ansätze. Zu guter Letzt brauchen wir mehr Akzeptanz und Information über psychische Erkrankungen. Denn je geringer die Angst vor Stigmatisierung und Autonomieverlust ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sich trauen, offen über ihr Leid zu sprechen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Besuch beim Psychiater, der Psychotherapeutin, dem Krisendienst oder der Beratungsstelle muss für Betroffene so selbstverständlich werden wie der Arztbesuch bei einem Beinbruch.