Rede im Bundestag vom 22. Juni 2017
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dieses Gesetzgebungsverfahren ist aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangshandlung bei Betreuten, die zwar stationär behandelt werden, aber nicht geschlossen untergebracht werden können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht entziehen können, notwendig geworden. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, unverzüglich eine Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung für diese Fallgruppe zu schaffen, da die Schutzlücke mit der aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar sei. Ziel muss sein, die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Schutzlücke hinsichtlich der besonderen Personengruppe zu schließen, ohne dabei die Voraussetzungen für Zwangsbehandlungen im Allgemeinen auszuweiten. Mit der Reform im Jahr 2013 scheint es – zumindest ersten veröffentlichten Zahlen zufolge – gelungen zu sein, Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie zu reduzieren. Das ist ein wichtiger Erfolg, der nicht durch das Öffnen neuer Türen gefährdet werden darf. Je restriktiver die rechtlichen Möglichkeiten zur Zwangsbehandlung sind, umso mehr wird die Psychiatrie sich weiterentwickeln und auf Zwangsbehandlungen verzichten.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung birgt die Gefahr der Ausweitung der Anwendung von Zwang in der Psychiatrie über das Erforderliche und das vom Bundesverfassungsgericht Geforderte hinaus. Deswegen können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Er erlaubt die Zwangsbehandlung auch für Betroffene, die sich freiwillig im psychiatrischen Krankenhaus befinden. Dies könnte ein Hemmnis für Menschen in Krisen darstellen, sich freiwillig in psychiatrische Behandlung zu begeben. Zwar können Personen, die nicht behandelt werden wollen, das Krankenhaus wieder verlassen. Aber gerade bei Personen in schweren Krisen, bei denen eine Zwangsbehandlung infrage kommt, besteht die Gefahr, dass sie nicht in der Verfassung sind, das Krankenhaus zu verlassen, oder nicht wissen, wohin sie ansonsten gehen sollen. Anstatt die Zwangsbehandlung von der Unterbringung zu entkoppeln, wäre es besser gewesen, in § 1906 BGB eine entsprechende Anwendung des Absatzes 3 für stationär behandelte Personen festzulegen, die sich einer Zwangsbehandlung räumlich nicht entziehen können. Denkbar wäre auch – in Abweichung zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes –, festzulegen, dass eine Unterbringungsgenehmigung nach § 1906 Absatz 1 BGB immer schon dann erforderlich ist, wenn der Aufenthalt des Betreuten seinem Willen widerspricht.
Positiv finden wir, dass der Gesetzentwurf die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung auf einen stationären Krankenhausaufenthalt beschränkt und eine ambulante Zwangsbehandlung ausgeschlossen bleibt. Menschen müssen sich zu Hause sicher fühlen können. Wir begrüßen auch den absoluten Vorrang des Patientenwillens und die Konkretisierung des Überzeugungsversuchs im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts („mit genügend Zeit und ohne Druck“).
Sinnvoll, aber nicht ausreichend ist die im Gesetzentwurf vorgesehene Evaluation der Auswirkungen der gesetzlichen Änderungen auf die Anwendungspraxis. Notwendig ist ein dauerhaftes Monitoring über Anzahl, Dauer und Durchführung von Zwangsbehandlungen, um Missstände in der Praxis und gesetzliche Fehlentwicklungen zu erkennen und zu korrigieren. Zwangsmaßnahmen sind schwere Eingriffe in die Grundrechte von Menschen, die, solange sie stattfinden, streng kontrolliert werden müssen.
Mit der Änderung des § 1901a BGB werden Betreuer verpflichtet, Betreute in geeigneten Fällen auf die Möglichkeit einer Patientenverfügung hinzuweisen und sie auf ihren Wunsch bei der Errichtung einer Patientenverfügung zu unterstützen. Wir hätten uns hier die ausdrückliche Erwähnung von Behandlungsvereinbarungen gewünscht, weil damit auch die Behandlerinnen und Behandler in die Pflicht genommen werden. Vorteil einer Behandlungsvereinbarung ist außerdem, dass sie Behandlungswünsche deutlich macht und nicht nur wie die Patientenverfügung Behandlungsauschlüsse formuliert.
Auch wenn es in den psychiatrischen Krankenhäusern ein stärkeres Bewusstsein für den mit der Anwendung von Zwang verbundenen Grundrechtseingriff zu geben scheint, sind wir noch weit entfernt von einem Ende des Zwangs in der Psychiatrie. Deshalb sind weitere Anstrengungen nötig, um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen und Betroffene in der Entscheidungsfindung zu unterstützen, anstatt ihre Entscheidung zu ersetzen. Maßgeblich ist, die psychiatrische-psychotherapeutische Versorgung so zu organisieren, dass stationäre Aufenthalte und Zwang von vornherein vermieden werden. Hierfür braucht es neue Formen der akuten Krisenhilfe, mehr integrierte Versorgungsangebote und genügend psychotherapeutische Plätze ohne lange Wartezeiten. Hilfreich sind zudem Nachsorgeangebote unter Einbeziehung von Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen psychisch Kranker, die darauf ausgerichtet sind, das Auftreten einer psychiatrischen Krise frühzeitig zu erkennen. Insgesamt muss die Versorgungsstruktur weiterentwickelt werden, hin zu einem personenzentrierten, gemeindenahen und sektorübergreifenden Angebot.