Zur Abstimmung am 29. Juni 2012 im Deutschen Bundestag über den Fiskalpakt und Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) hat Maria Klein-Schmeink folgende Persönliche Erklärung nach § 31 GO mit anderen Abgeordneten abgegeben:
"Die Analyse, die dem von der Bundesregierung ausgehandelten Fiskalpakt zugrundeliegt, ist irreführend. Europa leidet nicht an einer durch staatliche Ausgabenwut entstandenen Krise. Kann man beim Fall Griechenland noch davon reden, dass die Klientelwirtschaft von Eliten auf Kosten des Staates einen wichtigen Anteil an der desolaten Haushaltslage hat, so ist diese verengte Analyse schon hier nicht ausreichend, um die Lage des Landes zu erklären. Mit Bezug auf Spanien, Portugal oder Italien ist sie einfach falsch. Es war vor allem die Finanzkrise, die dazu führte, dass viele Staaten die Schulden ihres Finanzsektors übernehmen mussten, um diesen vordem Kollaps zu bewahren. Hinzu kommt die Schwäche des europäischen Bankensystems, die massive Überschuldung privater Haushalte wie in Spanien, Immobilienblasen wie auch in den Niederlanden und massive ökonomischen Ungleichgewichte in der Euro-Zone sowie die dramatische Ungleichverteilung von Vermögen, zu denen auch die Politik der Maximierung von Exportüberschüssen, gerade auch in Deutschland, beigetragen hat. Dies zu korrigieren, müsste eigentlich im Vordergrund politischen Handelns stehen. Die Demokratie ist in den Staaten der Europäischen Union heute fest verankert, aber jahrelange Massenarbeitslosigkeit hat bereits zum erstarken rechtsextremer, sogar faschistischer Kräfte in mehreren Ländern der EU geführt. Zweifellos sind Reformen in den Wirtschaftssystemen und Arbeitsmärkten vieler EU-Mitgliedstaaten notwendig. Zu Recht erwarten die betroffenen Menschen aber, dass dies mit der nötigen demokratischen Mitbestimmung und Legitimität sowie einem gerechten sozialen Ausgleich passiert. Der Fiskalpakt enthält weder die nötige anti-zyklische Flexibilität noch jeglichen sozialen Ausgleich, um ein prognostiziertes „verlorenes Jahrzehnt für Millionen Menschen“ in vielen Staaten Europas zu verhindern. Er schränkt Demokratie weiter ein statt sie auszuweiten. Die Internationale Arbeitsorganisation warnt, dass ohne einen „dramatischen Politikwechsel“ die Arbeitslosigkeit, insbesondere auch für Jugendliche, vor 2016 nicht absinken wird. Massenarbeitslosigkeit in diesem Ausmaß ist nicht nur für die Millionen betroffenen Menschen unmittelbar schwierig zu ertragen, sondern kann große Teile einer Generation dauerhaft von einer aktiven Rolle in der Gesellschaft entfremden und zu entsprechenden bleibenden Schäden auch in der politischen Kultur führen. Auch ökonomisch und haushalterisch kann dies zu einer Belastung weit über den Zeitraum der akuten Rezession hinaus führen, weil eine verfestigte Entfremdung vom Arbeitsmarkt nicht einfach rückgängig zu machen ist. Um einen deutlichen Politikwechsel einzuleiten, wären wirksame Maßnahmen zur Linderung des Zinsdrucks auf Krisenstaaten nötig, vor allem durch einen Altschulden-Tilgungsfonds, wie ihn der Sachverständigenrat der Bundesregierung vorgeschlagen hat, eine Bankenunion sowie durch ein sozial-ökologisches Investitionsprogramm in einer Höhe, die den Kürzungen in den von Rezession betroffenen Staaten entspricht. Auf dem Europäischen Rat wurden nun kurzfristige Maßnahmen zur Linderung des Zinsdrucks bei Spanien und Italien vereinbart. Sie bedeuten für Spanien, dass die Bankenrettung anders als bisher geplant nicht über eine zusätzliche Schuldenbelastung für Spanien, sondern über direkte Hilfen aus dem ESM organisiert werden soll. Das löst für Spanien, nicht aber für andere Staaten, das Problem der gegenseitigen Verstärkung von Bankenkrise und Staatsschuldenkrise. Außerdem sollen italienische Staatsanleihen aufgekauft werden. Das kann den Zinsdruck mildern, löst aber das grundsätzliche Problem nicht, dass Italien in den nächsten Jahren immer wieder einer neuen Welle von Investorenmisstrauen gegenüber stehen kann, die das Land in Schwierigkeiten bringen. Als Verhandlungsergebnis zwischen Opposition und Regierung über eine Ergänzung des Fiskalpaktes mit weiteren Maßnahmen wurde vor diesem Hintergrund ein „Wachstumspaket“ beschlossen. Beim Großteil der vereinbarten Maßnahmen handelt es sich nicht um zusätzliche Mittel, sondern lediglich um Umschichtungen und bestenfalls einen Vorzieheffekt. Andere Maßnahmen wie die Aufstockung der Mittel der Europäischen Investitionsbank setzen darauf, einen Anreiz für private Investitionen zu schaffen. Solange aber in den Krisenländern die Unsicherheit über einen Fortbestand des Euro weiterbesteht und die Länder bereits in der Rezession sind, wird es dort nicht zu zusätzlichen privaten Investitionen kommen. In den Verhandlungen mit der Bundesregierung ist es gelungen, konkrete Schritte für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer verbindlich zu vereinbaren. Hier konnten wir also eine Richtungsveränderung durchsetzen, die es ohne uns nicht gegeben hätte. Die Finanztransaktionssteuer (FTT) soll noch in diesem Jahr im Wege der Methode der „Verstärkten Zusammenarbeit“ in den ersten EU-Staaten auf den Weg gebracht werden. Damit gelingt es nach vielen Jahren politischen Drucks aus Zivilgesellschaft und Parlamenten, eine relevante Besteuerung des Finanzsektors voranzubringen. Gleichzeitig wird damit sichergestellt, dass ein Teil des Konsolidierungsbedarfs, den der Fiskalpakt erzwingt, durch neue Einnahmen erreicht werden kann. Das mildert die zu befürchtenden einseitige Wirkung des Fiskalpakts. Diese Veränderungen waren nur möglich um den Preis einer Zustimmung zum Fiskalpakt. Auf diesen Weg haben wir uns als Partei und Fraktion eingelassen. Vor diesem Hintergrund habe ich dem Fiskalpakt zugestimmt. Was jetzt notwendig ist, sind weitere Maßnahmen, die dafür sorgen, dass der Fiskalpakt seine potentiell schadhaften Wirkungen nicht entfalten kann. Grundsätzlich ist die ökonomisch verträgliche Rückführung staatlicher Defizite sinnvoll, denn Staatsverschuldung ist immer auch ein Verteilungsproblem: Einfache Arbeitnehmer finanzieren über ihre Steuern die Zinszahlungen des Staates mit, während Gutverdiener mit einer Anlage in Staatsanleihen noch Geld verdienen können. Aber eine ökonomisch vernünftige Schuldenbremse braucht Rahmenbedingungen, die für eine Linderung des Zinsdrucks der Altschulden sorgen. Sie muss insofern einhaltbar sein, dass Anpassungsdruck nicht nur auf der Ausgaben-, sondern auch auf der Einnahmeseite entsteht und sie muss flexibel in Bezug auf Investitionen und wirtschaftliche Schwächephasen sein. Diese Bedingungen erfüllt der Fiskalpakt gegenwärtig noch nicht. Sie müssen jetzt als nächstes durchgesetzt werden."
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