Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag haben einen Antrag verabschiedet, der das Regelsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts aufgreift und die Bundesregierung auffordert sofort die Regelsätze für Kinder, Jugendliche und Erwachsene anzupassen und ihre Berechnung auf ein sachgerechtes und transparentes Fundament zu stellen.
Hier der Antrag auf der Homepage des Bundestages im PDF-Format:
Deutscher Bundestag Drucksache 17/675
17. Wahlperiode
Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Ekin Deligöz … und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und Erwachsene jetzt ermöglichen
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) sowie in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) sind von elementarer Bedeutung, weil sie das sozio-kulturelle Existenzminimum abdecken müssen. Als Mindestsicherung müssen sie dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Daher sind an die Verfahren zur Ermittlung und Festsetzung der Regelsätze im SGB II und SGB XII hohe Maßstäbe anzulegen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 zu den SGB II-Regelsätzen zutreffend festgestellt, dass die derzeitigen Verfahren zur Ermittlung der Bedarfe sowie zur Herleitung der Regelsätze überwiegend subjektiven Kriterien folgen und wenig transparent sind. Im Ergebnis ist das Verfahren überaus zweifelhaft, so dass nicht mehr von einer verfassungsgemäßen Ermittlung des Existenzminimums ausgegangen werden kann. Damit bestätigt sich die Kritik an der Höhe der Regelsatzleistungen für Kinder und Erwachsene. Sie sind gegenwärtig nicht bedarfsdeckend und nicht Existenz sichernd. Ausgesprochen ungerechtfertigt ist es zudem, den Regelsatz für Kinder und Jugendliche pauschal vom Erwachsenenregelsatz abzuleiten.
Bereits im Jahr 2004 ergab eine Berechnung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, dass der Regelsatz zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur Führung eines menschenwürdigen Lebens für einen alleinstehenden Erwachsenen bei wenigstens 420.-Euro liegen müsste. Eine fundierte und nachvollziehbare Expertise desselben Verbandes aus dem Jahr 2009 kommt nach einer Berechnung der Bedarfe von Kindern und Jugendlichen zu dem Schluss, dass deren Regelsätze zwischen 280.-Euro für kleine Kinder und 360.-Euro für ältere Jugendliche liegen müssten, wenn man das sozio-kulturelle Existenzminimum tatsächlich decken wollte.
Zusätzlich zu den ungenügenden Regelsätzen hat sich die fast vollständige Pauschalierung der früheren einmaligen Leistungen als unzulänglich und in dieser Rigorosität als lebensfremd erwiesen. Die geringe Höhe der Regelsätze erlaubt es den Hilfebedürftigen nicht, Rücklagen für größere Anschaffungen oder Reparaturen zu bilden, so dass die Hilfebedürftigen auf die darlehensweise Gewährung von besonderen Ausgaben hoffen müssen. Die Verwaltung dieser Darlehen verursacht zusätzliche Bürokratie und schmälert den monatlichen finanziellen Spielraum der Leistungsbeziehenden weiter, so dass in Folge weitere Lücken entstehen.
Bestimmte Einmalbedarfe sind nicht planbar oder beeinflussbar. Auch lassen sich Besonderheiten wie etwa Übergrößen nicht ohne weiteres typisiert in einer pauschalen Leistung darstellen.
Überdies ist die Praxis, die Regelsätze zwischen den alle fünf Jahre stattfindenden Erhebungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe alljährlich an die Anpassung der Renten zu koppeln, systemwidrig. Eine Koppelung an den Lebenshaltungskostenindex wäre hingegen sachgerecht.
Es ist daher dringend notwendig, den Sozialstaatsauftrag des Artikel 1 des Grundgesetzes, nämlich die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen, sofort zu erfüllen: Nur eine Anpassung der Regelsätze an die tatsächlichen Bedürfnisse und die Schaffung eines wissenschaftlich nachvollziehbaren und transparenten Verfahrens der Regelsatzberechnung können verhindern, dass das Gebot der Menschenwürde für die vielen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch beziehen, nur auf dem Papier steht.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. als Sofortmaßnahme den Regelsatz für Erwachsene durch Änderung der Regelsatzverordnung unverzüglich auf 420 Euro zu erhöhen und gleichzeitig die Regelsätze für Kinder und Jugendliche angelehnt an die Empfehlungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zu gestalten;
2. es den Kostenträgern des SGB II, SGB XII und des Asylbewerberleistungsgesetzes bis zur Entwicklung praktikabler Vorschläge zur Neuordnung der Pauschalierung einmaliger Leistungen zu ermöglichen, zusätzlich einmalige Leistungen und infrastrukturelle Leistungen zu gewähren, sofern dies aufgrund besonderer Lebenslagen und Dispositionen von Hilfeempfängern unabweisbar notwendig ist oder sofern es zur Sicherung der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung von hilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen dient;
3. für die Ermittlung der künftigen Berechnungsgrundlage der Regelsätze eine unabhängige Kommission mit Vertretern der Fachwissenschaft, den Wohlfahrtsverbänden sowie Vertretern der Träger der Sozialhilfe und der Kinder-und Jugendhilfe einzuberufen;
4. der Kommission folgende Vorgaben zu machen:
a) die Regelsätze nach dem SGB II und SGB XII so auszugestalten, dass sie dem sozialstaatlichen Gebot der Deckung des sozio-kulturellen Existenzminimums für ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen Rechnung tragen;
b) bei der Neufestlegung der Regelsätze auf pauschale Abschläge zu verzichten und
Bildungsausgaben mit in die Ausgabenermittlung einzubeziehen;
c) den Anpassungsmechanismus zwischen den Erhebungszeitpunkten der Einkommens- und Verbrauchsstatistik an die Verbraucherpreisentwicklung im regelsatzrelevanten Bereich zu koppeln;
d) die Regelsätze für Kinder und Jugendliche auf eine Berechnungsgrundlage zu stellen, die
deren altersspezifischen und besonderen entwicklungsbedingten Bedarf berücksichtigt;
e) die Ermittlung der Bedürfnisse und die Festlegung der Bedarfe nachvollziehbar und transparent anzulegen;
f) zu prüfen, in welchen Bereichen die allgemeine, bedürftigkeitsunabhängige Bereitstellung von Sachleistungen wie Schulbüchern oder kostenlosem Schulessen besser als Geldleistungen eine chancen-und bedarfsgerechte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben gewährleisten;
g) zu prüfen, in welchen Bereichen die Pauschalierung von Leistungen nicht sachgerecht ist und einer Öffnungsklausel bedarf, die besondere Lagen und Dispositionen berücksichtigt.
Berlin, den 10. Februar 2010
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion
Begründung
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 hat offenbart, dass die Ermittlung der Regelsätze nach der Regelsatzverordnung verfassungswidrig ist. Dies betrifft die Regelsätze für Erwachsene und in besonderem Maße die der Kinder.
Auch die Bundesverfassungsrichter halten die Methoden des jetzigen Verfahrens der Regelsatzermittlung für unangemessen. Es sind erhebliche Zweifel an der Validität der zu Grunde gelegten Zahlen geäußert worden. Der Vertreter der Bundesregierung zog sich in der mündlichen Verhandlung auf die bloße Behauptung zurück, die Regelleistungen für Erwachsene seien
"ausreichend und korrekt ermittelt". Seine Ausführungen überzeugten nicht, sondern offenbarten die Konzeptlosigkeit der Regierung. Eine Erhöhung der Regelsätze ist längst überfällig. Es ist geboten, sofort zu handeln und nicht weiterhin in Kauf zu nehmen, dass Millionen von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland unterhalb des Existenzminimums leben müssen. Schon jetzt müssen die notwendigsten Anpassungen des Regelsatzes umgehend eingeleitet und sofort ein transparentes und nachvollziehbares Ermittlungsverfahren etabliert werden. Eine sofortige Erhöhung der Regelsätze in den beiden Systemen der Grundsicherung ist auch deshalb notwendig, weil in den vergangenen Jahren der Anstieg der Verbraucherpreise – insbesondere für Lebensmittel – so gut wie gar nicht nachvollzogen wurde.Die Sofortmaßnahmen sind insbesondere für Kinder erforderlich, da bei Ihnen keine Regelsatzanteile für Bildungsausgaben enthalten sind und diese bei der Pauschalierung überdurchschnittlich benachteiligt wurden. Schließlich hatten gerade sie wachstumsbedingt den überwiegenden Anteil der früheren einmaligen Leistungen in Anspruch genommen. Darüber hinaus sind Kinder keine kleinen Erwachsenen. Die Regelsätze für Kinder und Jugendliche werden derzeit mehr oder weniger willkürlich von einer an sich bereits unzureichenden Bezugsgröße, den Regelsätzen für Erwachsene, pauschal abgeleitet. Das führt beispielsweise dazu, dass Ausgaben für Tabak und Alkohol berücksichtigt werden, nicht aber Ausgaben für Spielzeug. Kinderregelsätze müssen sich aber danach richten, was Kinder und Jugendliche in den verschiedenen Altersgruppen benötigen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband geht davon aus, dass die Regelsätze je nach Altersgruppe derzeit zwischen 280 Euro für kleine Kinder und 360 Euro für ältere Jugendliche liegen müssen. Die derzeitige Methode zur Ermittlung des regelsatzrelevanten Bedarfs ist nicht sachgerecht, weil sie auf Basis von Ein-Personen-Haushalten im Segment der unteren 20 Prozent der Einkommen erfolgt. Diese Gruppe steht aber vor dem Hintergrund sinkender Reallöhne selbst unter dem Druck von Armut, Überschuldung und Vermögensabbau. Nunmehr stellen die Ausgaben dieser Gruppe die unterste Grenze der Verbrauchsausgaben dar. Schon deshalb ist es nicht zulässig, hier auch noch weitere Abschläge vorzunehmen. Es scheint auch nicht sachgerecht, dass Ein-Personen-Haushalte die Bezugsgröße für die Berechnung des Bedarfs von Familien ist.
Mit der Kopplung der Regelsatzerhöhungen an die Steigerung des Rentenwerts hat der Verordnungsgeber systematisch ständige Kaufkraftverluste hingenommen. Deshalb muss die Anpassung des Regelsatzes zwischen den Intervallen, in denen die Erhebung und Auswertung der Daten zur Berechnungsgrundlage der Regelsätze erfolgt, künftig an die Entwicklung der Verbraucherpreise der regelsatzrelevanten Verbrauchsgüter gekoppelt werden.
Die Anhebung der Regelsätze wäre nicht nur eine echte Verbesserung der Lebenssituation von nahezu 7 Millionen Hilfebedürftigen, davon mehr als 1,7 Millionen Kindern und Jugendlichen, sondern auch ein unbedingt notwendiger Beitrag zur Gewährleistung "eines menschenwürdigen Daseins", wie es Bundesverfassungsgerichtspräsident Papier formulierte. In unserer Gesellschaft bedarf es eines fruchtbaren Dialogs um Konzepte für eine echte Grundsicherung für Kinder und Erwachsene, die ihren Namen auch verdient. Gefordert ist eine Grundsicherung, die echte Teilhabechancen durch die Gewährung eines soziokulturellen Existenzminimums bietet. Das schließt ausdrücklich nicht aus, dass in besonderen Not- oder Lebenslagen zusätzlich wieder einmalige Leistungen ermöglicht werden.
Gerade auch Kindern muss es ermöglicht werden, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich bestmöglich zu entfalten. Das gilt nicht nur für Kinder, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen. Damit jedes Kind eine wirkliche Chance bekommt, ist ein qualitativ hochwertiges Betreuungs-und Bildungssystem nötig, das jedes Kind entsprechend seinen individuellen Bedürfnissen fördert.
Das derzeitige Ehe-und Familienfördersystem ist endlich so umzugestalten, dass Kinder in den Mittelpunkt der Förderung gestellt werden. Durch die Einführung einer bedingungslosen, existenzsichernden Kindergrundsicherung kann das System grundsätzlich reformiert und alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft und der Familienform, in der sie aufwachsen, materiell angemessen und gerecht unterstützt werden.
17. Wahlperiode
Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Ekin Deligöz … und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und Erwachsene jetzt ermöglichen
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) sowie in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) sind von elementarer Bedeutung, weil sie das sozio-kulturelle Existenzminimum abdecken müssen. Als Mindestsicherung müssen sie dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Daher sind an die Verfahren zur Ermittlung und Festsetzung der Regelsätze im SGB II und SGB XII hohe Maßstäbe anzulegen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 zu den SGB II-Regelsätzen zutreffend festgestellt, dass die derzeitigen Verfahren zur Ermittlung der Bedarfe sowie zur Herleitung der Regelsätze überwiegend subjektiven Kriterien folgen und wenig transparent sind. Im Ergebnis ist das Verfahren überaus zweifelhaft, so dass nicht mehr von einer verfassungsgemäßen Ermittlung des Existenzminimums ausgegangen werden kann. Damit bestätigt sich die Kritik an der Höhe der Regelsatzleistungen für Kinder und Erwachsene. Sie sind gegenwärtig nicht bedarfsdeckend und nicht Existenz sichernd. Ausgesprochen ungerechtfertigt ist es zudem, den Regelsatz für Kinder und Jugendliche pauschal vom Erwachsenenregelsatz abzuleiten.
Bereits im Jahr 2004 ergab eine Berechnung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, dass der Regelsatz zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur Führung eines menschenwürdigen Lebens für einen alleinstehenden Erwachsenen bei wenigstens 420.-Euro liegen müsste. Eine fundierte und nachvollziehbare Expertise desselben Verbandes aus dem Jahr 2009 kommt nach einer Berechnung der Bedarfe von Kindern und Jugendlichen zu dem Schluss, dass deren Regelsätze zwischen 280.-Euro für kleine Kinder und 360.-Euro für ältere Jugendliche liegen müssten, wenn man das sozio-kulturelle Existenzminimum tatsächlich decken wollte.
Zusätzlich zu den ungenügenden Regelsätzen hat sich die fast vollständige Pauschalierung der früheren einmaligen Leistungen als unzulänglich und in dieser Rigorosität als lebensfremd erwiesen. Die geringe Höhe der Regelsätze erlaubt es den Hilfebedürftigen nicht, Rücklagen für größere Anschaffungen oder Reparaturen zu bilden, so dass die Hilfebedürftigen auf die darlehensweise Gewährung von besonderen Ausgaben hoffen müssen. Die Verwaltung dieser Darlehen verursacht zusätzliche Bürokratie und schmälert den monatlichen finanziellen Spielraum der Leistungsbeziehenden weiter, so dass in Folge weitere Lücken entstehen.
Bestimmte Einmalbedarfe sind nicht planbar oder beeinflussbar. Auch lassen sich Besonderheiten wie etwa Übergrößen nicht ohne weiteres typisiert in einer pauschalen Leistung darstellen.
Überdies ist die Praxis, die Regelsätze zwischen den alle fünf Jahre stattfindenden Erhebungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe alljährlich an die Anpassung der Renten zu koppeln, systemwidrig. Eine Koppelung an den Lebenshaltungskostenindex wäre hingegen sachgerecht.
Es ist daher dringend notwendig, den Sozialstaatsauftrag des Artikel 1 des Grundgesetzes, nämlich die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen, sofort zu erfüllen: Nur eine Anpassung der Regelsätze an die tatsächlichen Bedürfnisse und die Schaffung eines wissenschaftlich nachvollziehbaren und transparenten Verfahrens der Regelsatzberechnung können verhindern, dass das Gebot der Menschenwürde für die vielen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch beziehen, nur auf dem Papier steht.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. als Sofortmaßnahme den Regelsatz für Erwachsene durch Änderung der Regelsatzverordnung unverzüglich auf 420 Euro zu erhöhen und gleichzeitig die Regelsätze für Kinder und Jugendliche angelehnt an die Empfehlungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zu gestalten;
2. es den Kostenträgern des SGB II, SGB XII und des Asylbewerberleistungsgesetzes bis zur Entwicklung praktikabler Vorschläge zur Neuordnung der Pauschalierung einmaliger Leistungen zu ermöglichen, zusätzlich einmalige Leistungen und infrastrukturelle Leistungen zu gewähren, sofern dies aufgrund besonderer Lebenslagen und Dispositionen von Hilfeempfängern unabweisbar notwendig ist oder sofern es zur Sicherung der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung von hilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen dient;
3. für die Ermittlung der künftigen Berechnungsgrundlage der Regelsätze eine unabhängige Kommission mit Vertretern der Fachwissenschaft, den Wohlfahrtsverbänden sowie Vertretern der Träger der Sozialhilfe und der Kinder-und Jugendhilfe einzuberufen;
4. der Kommission folgende Vorgaben zu machen:
a) die Regelsätze nach dem SGB II und SGB XII so auszugestalten, dass sie dem sozialstaatlichen Gebot der Deckung des sozio-kulturellen Existenzminimums für ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen Rechnung tragen;
b) bei der Neufestlegung der Regelsätze auf pauschale Abschläge zu verzichten und
Bildungsausgaben mit in die Ausgabenermittlung einzubeziehen;
c) den Anpassungsmechanismus zwischen den Erhebungszeitpunkten der Einkommens- und Verbrauchsstatistik an die Verbraucherpreisentwicklung im regelsatzrelevanten Bereich zu koppeln;
d) die Regelsätze für Kinder und Jugendliche auf eine Berechnungsgrundlage zu stellen, die
deren altersspezifischen und besonderen entwicklungsbedingten Bedarf berücksichtigt;
e) die Ermittlung der Bedürfnisse und die Festlegung der Bedarfe nachvollziehbar und transparent anzulegen;
f) zu prüfen, in welchen Bereichen die allgemeine, bedürftigkeitsunabhängige Bereitstellung von Sachleistungen wie Schulbüchern oder kostenlosem Schulessen besser als Geldleistungen eine chancen-und bedarfsgerechte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben gewährleisten;
g) zu prüfen, in welchen Bereichen die Pauschalierung von Leistungen nicht sachgerecht ist und einer Öffnungsklausel bedarf, die besondere Lagen und Dispositionen berücksichtigt.
Berlin, den 10. Februar 2010
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion
Begründung
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 hat offenbart, dass die Ermittlung der Regelsätze nach der Regelsatzverordnung verfassungswidrig ist. Dies betrifft die Regelsätze für Erwachsene und in besonderem Maße die der Kinder.
Auch die Bundesverfassungsrichter halten die Methoden des jetzigen Verfahrens der Regelsatzermittlung für unangemessen. Es sind erhebliche Zweifel an der Validität der zu Grunde gelegten Zahlen geäußert worden. Der Vertreter der Bundesregierung zog sich in der mündlichen Verhandlung auf die bloße Behauptung zurück, die Regelleistungen für Erwachsene seien
"ausreichend und korrekt ermittelt". Seine Ausführungen überzeugten nicht, sondern offenbarten die Konzeptlosigkeit der Regierung. Eine Erhöhung der Regelsätze ist längst überfällig. Es ist geboten, sofort zu handeln und nicht weiterhin in Kauf zu nehmen, dass Millionen von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland unterhalb des Existenzminimums leben müssen. Schon jetzt müssen die notwendigsten Anpassungen des Regelsatzes umgehend eingeleitet und sofort ein transparentes und nachvollziehbares Ermittlungsverfahren etabliert werden. Eine sofortige Erhöhung der Regelsätze in den beiden Systemen der Grundsicherung ist auch deshalb notwendig, weil in den vergangenen Jahren der Anstieg der Verbraucherpreise – insbesondere für Lebensmittel – so gut wie gar nicht nachvollzogen wurde.Die Sofortmaßnahmen sind insbesondere für Kinder erforderlich, da bei Ihnen keine Regelsatzanteile für Bildungsausgaben enthalten sind und diese bei der Pauschalierung überdurchschnittlich benachteiligt wurden. Schließlich hatten gerade sie wachstumsbedingt den überwiegenden Anteil der früheren einmaligen Leistungen in Anspruch genommen. Darüber hinaus sind Kinder keine kleinen Erwachsenen. Die Regelsätze für Kinder und Jugendliche werden derzeit mehr oder weniger willkürlich von einer an sich bereits unzureichenden Bezugsgröße, den Regelsätzen für Erwachsene, pauschal abgeleitet. Das führt beispielsweise dazu, dass Ausgaben für Tabak und Alkohol berücksichtigt werden, nicht aber Ausgaben für Spielzeug. Kinderregelsätze müssen sich aber danach richten, was Kinder und Jugendliche in den verschiedenen Altersgruppen benötigen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband geht davon aus, dass die Regelsätze je nach Altersgruppe derzeit zwischen 280 Euro für kleine Kinder und 360 Euro für ältere Jugendliche liegen müssen. Die derzeitige Methode zur Ermittlung des regelsatzrelevanten Bedarfs ist nicht sachgerecht, weil sie auf Basis von Ein-Personen-Haushalten im Segment der unteren 20 Prozent der Einkommen erfolgt. Diese Gruppe steht aber vor dem Hintergrund sinkender Reallöhne selbst unter dem Druck von Armut, Überschuldung und Vermögensabbau. Nunmehr stellen die Ausgaben dieser Gruppe die unterste Grenze der Verbrauchsausgaben dar. Schon deshalb ist es nicht zulässig, hier auch noch weitere Abschläge vorzunehmen. Es scheint auch nicht sachgerecht, dass Ein-Personen-Haushalte die Bezugsgröße für die Berechnung des Bedarfs von Familien ist.
Mit der Kopplung der Regelsatzerhöhungen an die Steigerung des Rentenwerts hat der Verordnungsgeber systematisch ständige Kaufkraftverluste hingenommen. Deshalb muss die Anpassung des Regelsatzes zwischen den Intervallen, in denen die Erhebung und Auswertung der Daten zur Berechnungsgrundlage der Regelsätze erfolgt, künftig an die Entwicklung der Verbraucherpreise der regelsatzrelevanten Verbrauchsgüter gekoppelt werden.
Die Anhebung der Regelsätze wäre nicht nur eine echte Verbesserung der Lebenssituation von nahezu 7 Millionen Hilfebedürftigen, davon mehr als 1,7 Millionen Kindern und Jugendlichen, sondern auch ein unbedingt notwendiger Beitrag zur Gewährleistung "eines menschenwürdigen Daseins", wie es Bundesverfassungsgerichtspräsident Papier formulierte. In unserer Gesellschaft bedarf es eines fruchtbaren Dialogs um Konzepte für eine echte Grundsicherung für Kinder und Erwachsene, die ihren Namen auch verdient. Gefordert ist eine Grundsicherung, die echte Teilhabechancen durch die Gewährung eines soziokulturellen Existenzminimums bietet. Das schließt ausdrücklich nicht aus, dass in besonderen Not- oder Lebenslagen zusätzlich wieder einmalige Leistungen ermöglicht werden.
Gerade auch Kindern muss es ermöglicht werden, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich bestmöglich zu entfalten. Das gilt nicht nur für Kinder, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen. Damit jedes Kind eine wirkliche Chance bekommt, ist ein qualitativ hochwertiges Betreuungs-und Bildungssystem nötig, das jedes Kind entsprechend seinen individuellen Bedürfnissen fördert.
Das derzeitige Ehe-und Familienfördersystem ist endlich so umzugestalten, dass Kinder in den Mittelpunkt der Förderung gestellt werden. Durch die Einführung einer bedingungslosen, existenzsichernden Kindergrundsicherung kann das System grundsätzlich reformiert und alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft und der Familienform, in der sie aufwachsen, materiell angemessen und gerecht unterstützt werden.