Rede von Maria Klein-Schmeink bei der Verleihung des Diotima-Ehrenpreises 2016 der Bundespsychotherapeutenkammer an Prof. Dr. Christine Knaevelsrud am 22. April 2016 in Berlin:
Meine Damen und Herren,
ich darf mich herzlichen bedanken für Ihre Einladung und die Möglichkeit hier zu Beginn ihrer Tagung zu sprechen. Und ich sage danke dafür, dass sich auch die Gemeinschaft der Psychotherapeuten engagiert und mit Nachdruck der Aufgabe und den Fragen stellt, die mit der Hilfe und Unterstützung für die zahlreichen Menschen verbunden sind, die Gewalt, Folter und Verletzungen ihrer persönlichen Integrität erleben mussten.
Ich habe für meine Rede den Titel „Gewalt- und Kriegserfahrungen mit Menschlichkeit begegnen“ gewählt. Denn grundlegend für die Bewältigung einer solchen Erfahrung ist es, Zuflucht zu finden in einer Umgebung, die Sicherheit und ein neues Zuhause gewährt. Ich blicke immer wieder mit tiefer Dankbarkeit und Freude auf die große Bereitschaft der Menschen hier in Deutschland, die Zufluchtsuchenden willkommen zu heißen und ihnen ehrenamtlich dabei zu helfen hier anzukommen. Dem Erstarken der AfD zum Trotz, trotz der vielen fremdenfeindlichen und rechtsextremistischen Anschläge auf Flüchtlingseinrichtungen, können wir noch immer sagen, dass ein großer Teil der Menschen in Deutschland sich für Flüchtlinge einsetzt.
Ich glaube, das hat sehr unmittelbar damit zu tun, dass viele spüren, wie wichtig es ist, die Wahrung der Menschenwürde als grundlegendes Prinzip einer Gemeinschaft und ihrer Wertordnung selbst zu leben und auch zu verteidigen. Denn in dem Tun mache ich mir dieses menschliche Prinzip zu eigen und spüre den Stellenwert für mich und die Gemeinschaft, in der ich lebe.
Umso wichtiger ist es, sich nicht auf die Logik und Rhetorik der Angst, der Abwehr, der Abgrenzung und der Fremdenfeindlichkeit einzulassen, wie es derzeit als Reaktion auf die hohen Zustimmungswerte der AfD und anderer rechtsextremer Parteien geschieht.
Ja, die Aufnahme von so vielen Menschen aus anderen Kulturen und mit so großer Not in so kurzer Zeit verlangt den Menschen einiges ab, den aufnehmenden Gemeinschaften genauso wie den Neuhinzugekommenen.
Aber wer, wenn nicht wir in den reichen, finanziell gut gestellten Ländern kann diese Aufgabe stemmen. Statt der Kleinherzigkeit in immer neuen Asylverschärfungsgesetzen, statt eines Europas, das nur auf der Basis der Abschottung zusammenfindet, brauchen wir Solidarität und den Willen unsere europäische Wertegemeinschaft auf der Grundlage der Wahrung der Menschenrechte zu definieren und zu verteidigen. Dazu passt es nicht, wie Anfang des Jahres durch den Gesetzgeber geschehen, die Posttraumatische Belastungsstörung regelhaft nicht mehr als Abschiebehindernis zu sehen, sondern nur noch unmittelbare Gefahr für Leib und Leben als ein solches zu akzeptieren. Ich meine, das ist nicht mit den Menschenrechten und mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar. Der Wunsch, den Zuzug in unser Land zu begrenzen, darf nicht dazu führen, dass solch verletzliche Personengruppen ohne individuelle Prüfung systematisch abgeschoben werden.
Der Begriff der Menschenwürde ist in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts definiert: Es ist damit jener Wert- und Achtungsanspruch gemeint, der dem Menschen kraft seines Menschseins zukommt, unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder seinem sozialen Status. Die Menschenwürde ist – so das Bundesverfassungsgericht – oberster Grundwert und Wurzel aller Grundrechte. Als einzige Verfassungsnorm gilt die Menschenwürde absolut, kann also durch keine andere Norm – auch nicht durch ein davon abgeleitetes Grundrecht – beschränkt werden. Und dieses Grundrecht ist laut Bundesverfassungsrecht auch nicht migrationspolitisch zu relativieren. Es gilt für jeden Menschen.
Deshalb sollten wir uns weiterhin aufrütteln lassen, berühren lassen von den Bildern, die das große Leid, die Bedrängnis zeigen in den Flüchtlingscamps in Idomeni, wo viele Familien darauf warten zu ihren Angehörigen nach Deutschland kommen zu können, von den Bildern der vielen, die auf wackeligen Booten versuchen das Mittelmeer zu überwinden, von den Bildern aus den Flüchtlingscamps an der türkisch-syrischen Grenze, wo die Menschen zur menschlichen Pufferzone zwischen den Kriegsparteien gemacht werden.
Politisch brauchen wir den Willen, diese Menschen auf sicherem Wege in sichere Länder zu bringen, Familien zusammen zu führen, ihnen Schutz und gesundheitliche Versorgung und ihnen den Weg zur Integration in unsere Gesellschaft so leicht wie möglich zu machen. Dazu gehört auch, die Mängel und Lücken, die schon zuvor in unserem Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystem bestanden haben, beherzt anzugehen. Wenn schon für die hiesige Bevölkerung lange Wartezeiten für einen Psychotherapieplatz bestehen, wird dies durch die neu Hinzugekommenen nicht eben besser. Umso mehr ist es politische Aufgabe und politischer Auftrag, für Rahmenbedingungen zu sorgen, damit Neid und Ängste, verdrängt zu werden, nicht geschürt werden.
Gewalterfahrungen, oftmals auch Folter oder das Miterleben von Folter an Familienangehörigen in ihren Heimatländern, oftmals im Bürgerkrieg, Erfahrungen von sexueller Gewalt, unmittelbare Lebensbedrohung, Erniedrigung und Willkür auf einem langen Fluchtweg. Kein Wunder, dass Untersuchungen zeigen, dass etwa 40 % der Zufluchtsuchenden unter psychischen Folgen von Flucht und Vertreibung leiden, nicht alle von ihnen mit langanhaltendem Krankheitswert, aber jede und jeder mit einem Bedarf an Beratung, Unterstützung, an Zuwendung und Hilfen zur Bewältigung einer eingreifenden persönlichen Erfahrung.
Nun könnte man vermuten, dass unser weitausgebautes Hilfesystem in Deutschland nicht zum ersten Mal mit solchen Traumafolgen konfrontiert ist und ein entsprechendes Instrumentarium und eine entsprechende Auffangstruktur vorweisen würde. Es gab die zahlreichen Menschen, die im zweiten Weltkrieg traumatisierende Erfahrungen gemacht haben. Es gab die vielen Flüchtlinge die im Zuge des Kosovokrieges schlimmste Gewalt erlitten haben. Es gab und gibt viele Menschen, die aus den Bürgerkriegsregionen auf dem afrikanischen Kontinent geflohen sind. Sie alle haben verschiedenste Formen von Gewalt und Terror, oftmals Vergewaltigung und Folter erlebt. Welche Hilfe wurde ihnen in Deutschland zuteil?
Zumeist hing es von dem konkreten Ort ab, ob und welche Hilfe ihnen zugänglich war. Was wir in Deutschland hatten bis zum letzten Jahr waren einzelne Inseln von medizinischer, psychologischer, psychosozialer und psychotherapeutischer Erfahrung und Expertise, Initiativen hoch engagierter Psychotherapeuten, Psychiaterinnen, Mediziner und Expertinnen in den Zentren für Trauma und Folteropfer. Doch im Konkreten fehlt es an vielem, an flexiblen rechtlichen Möglichkeiten, die passgenaue Hilfen erlauben und nicht zuletzt an verlässlichen Finanzierungsmöglichkeiten. Dieser Mangel wurde dann angesichts der stark ansteigenden Flüchtlingszahlen offenkundig und zugleich dramatisch.
Wir schulden es den Trauma- und Folteropfern. Wir schulden es auch den vielen Ehrenamtlichen, die sich oftmals überfordert sehen, mit diesen Erfahrungen umzugehen. Wir schulden es unserem Gemeinwohl, jetzt endlich für angemessene Hilfe und Unterstützung zu sorgen. Denn wie sollen Menschen, die an schweren körperlichen und psychischen Folgen von Gewalt leiden, in dieser Gesellschaft Fuß fassen, die deutsche Sprache lernen, schulische und berufliche Qualifikationen erwerben, Kontakte zur Nachbarschaft aufbauen.
Erfreulich ist es, dass die Anzahl von Psychosozialen Zentren zur Erstberatung und Unterstützung im letzten Jahr in den Bundesländern ausgebaut wurde. Ich hoffe, dass weitere Länder da nachziehen. Doch insgesamt bleibt es bisher bei einem sehr löchrigen Flickenteppich mit großen Versorgungslücken und –brüchen. Insbesondere unser Regelsystem der gesundheitlichen Versorgung ist nicht ausreichend ausgerüstet, um mit dem großen Problemdruck umzugehen.
So haben wir weiterhin je nach rechtlichem Flüchtlingsstatus unterschiedliche Leistungsansprüche und Kostenträger. So unterschiedlich, dass selbst Profis größte Mühe haben, das Dickicht zu durchdringen, aber auch mit den Lücken umzugehen.
Nun hat die Bundesregierung mit dem Asylpaket II im letzten Herbst einige Änderungen auch im gesundheitlichen Bereich verabschiedet. Die Möglichkeit, in den Kommunen die Gesundheitskarte auch für Flüchtlinge auszugeben, wurde erleichtert, indem die Länder Rahmenvereinbarungen mit den Krankenkassen abschließen können. Es wurden Sonderzulassungen für Psychotherapeuten für die Versorgung eines bestimmten Adressatenkreises von Flüchtlingen ermöglicht. Doch reicht dies aus? Ich meine nicht, und darin werden Sie mir wohl zustimmen. Denn es fehlen weiterhin zentrale Elemente für eine angemessene Versorgung.
Zuallererst muss dafür gesorgt werden, dass die notwendige Krisenhilfe, psychische Stabilisierung und Therapie gewährleistet wird, unabhängig davon, welchen Rechtsstatus die Betroffenen haben. Daneben muss sichergestellt sein, dass wir eine kultur- und geschlechtersensible Hilfeleistung ermöglichen, denn sonst wird sie voraussichtlich nicht gelingen. Wichtig ist, dass die Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer endlich eine verlässliche Finanzierung für ihre vielfältige und zugleich erfahrungsreiche Arbeit erhalten, denn sie können mit ihrer Erfahrung wichtige Impulsgeber sein und in besonderer Weise zur Weiterentwicklung der Hilfeleistung beitragen.
Des Weiteren muss gewährleistet sein, dass wenn notwendig Sprach- und Kulturmittlerdienste einbezogen werden können und finanziell abgesichert sind. Im Falle einer gesundheitlichen und psychotherapeutischen Behandlung muss dies unbürokratisch über die Krankenkassen abgewickelt werden. Welcher Kostenträger dazu herangezogen wird, ist dann erst zwischen den Kostenträgern zu klären. Würde man sich endlich dazu durchringen, dass der Bund diese Kosten generell übernimmt und sie den Kassen erstattet, wäre viel gewonnen.
Und wir brauchen den Mut und den Willen, eine möglichst individuell tragfähige Hilfeleistung aufzubauen, die sich zunächst und allererst von der Menschlichkeit tragen lässt, die riskiert, von Standardtherapieverfahren und Vorstellungen abzuweichen, sich möglichst gut zu vernetzen. Von diesem Mut und diesem Willen spüre ich vielerorts sehr viel. Offene Fragen, Hilfslosigkeit, Erschrecken angesichts der Massivität der Erfahrungen. Aber den Willen, das was möglich ist zu tun, nämlich Dasein und Wege finden. Auch die heutige Preisträgerin lebt diese Haltung, wie mir scheint und deshalb leite ich gern über zur Preisverleihung.
Vielen Dank, dass Sie mir so lange zugehört haben.